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Türkis-grüne Schicksalsgemeinschaft in Bewegung

Von Martin Tschiderer

Politik

Das Verhältnis des Gesundheitsministers zu Kanzler Kurz war stark getrübt. Was bewirkt Anschobers Rücktritt für die Koalition?


Ein inniges Verhältnis war es nie. Mit Fortdauer der Corona-Krise trübte es sich aber sichtlich immer weiter ein. In den ersten Pandemiemonaten absolvierten Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und der am Dienstag zurückgetretene Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) noch regelmäßig gemeinsame Auftritte. Über die vergangenen Monate wurden sie auffällig seltener.

Ein wesentlicher Faktor dafür waren inhaltliche Differenzen. Anschober hatte im Vorfeld jeder beschlossenen Corona-Maßnahme intensive Überzeugungsarbeit zu leisten - nicht zuletzt bei den Landeshauptleuten. Deren Mehrheit stellt die ÖVP. Kanzler Kurz war daher für stabilen Rückhalt in seiner eigenen Partei auch darauf angewiesen, ein offenes Ohr für ihre Wünsche zu haben.

Für das Verhältnis Kurz-Anschober nicht zu vernachlässigen waren auch die Umfragedaten. Als der Gesundheitsminister den Kanzler im Sommer erstmals im Vertrauensindex überholte, soll Kurz damit wenig Freude gehabt haben. Die Beziehung der beiden wurde danach nicht herzlicher. Können der Rückzug Anschobers und sein Nachfolger als Gesundheitsminister, Wolfgang Mückstein, die eingefahrenen Dynamiken zwischen den Koalitionspartnern ein wenig verbessern?

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Kurzfristige Ablenkung von Öbag-Chats

Wohl kaum, sagt Politologe Peter Filzmaier zur "Wiener Zeitung". Durch den Austausch eines einzelnen Ministers ändere sich nichts am "Grundbefund der Schicksalsgemeinschaft durch die Pandemie, durch die sonstige Bindungen abnehmen". Persönliche Sympathien und Antipathien spielten zudem eine weit geringere Rolle für das Koalitionsklima als widerstrebende strategische Interessen. Wenn die ÖVP es bisher dem Gesundheitsminister überließ, Interessenskonflikte mit den Länderchefs auszutragen oder unpopuläre Maßnahmen zu verkünden, werde sich an dieser Strategie auch mit Mückstein nichts ändern, so Filzmaier.

Der neue Minister startet als politischer Quereinsteiger ohne Bekanntheitsbonus, dürfte für den Kanzler bei Image-Werten also jedenfalls zum Start keine potenzielle Bedrohung darstellen. Mittelfristig könnte der fehlende Startbonus aber auch zum Vorteil für den neuen Minister werden, meint der Politologe: "Wenn man am Höhepunkt der Pandemiewelle einsteigt, kommt man irgendwann ins Tal der Welle. Und damit vielleicht selbst in einen Sog." Aktuell sei der Rücktritt Anschobers für die ÖVP eine dankbare Ablenkung von den Negativschlagzeilen nach den aufgetauchten Chats rund um die Bestellung von Öbag-Chef Thomas Schmid, sagt Filzmaier. Einen langfristigen Effekt sieht er aber nicht.

"Strukturelles Knirschen im Gebälk"

Was dagegen bleibt: die Folgen der Pandemie - nicht nur auf gesundheitlicher, sondern auch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. "Das Grundmodell dieser Koalition ist schon im März 2020 zusammengebrochen", sagt Filzmaier. Es war der Versuch, im Wissen um die großen inhaltlichen Differenzen der beiden Parteien "Spielwiesen" abzustecken, die möglichst getrennt voneinander beackert werden. Voraussetzung, um türkise wie grüne "Leuchtturmprojekte" umsetzen zu können, ist aber: Geld, beziehungsweise eine gute Konjunktur.

Mit der Pandemie und ihren Folgen wird vieles nicht wie geplant umsetzbar sein. "Das Beste aus beiden Welten" sei nicht mehr wiederzubeleben, sagt der Politikwissenschafter. "Denn ‚koste es, was es wolle‘ braucht man für die Corona-Krise." Weil ein Wahlkampf in einer Pandemie wohl keine Option sei, werde Türkis-Grün trotz "strukturellen Knirschens im Gebälk" aber wohl aus Mangel an Alternativen "bis auf Weiteres" weitermachen.