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Sind Afghanen wirklich öfter straffällig?

Von Martina Madner

Politik

Vier Afghanen, die um Asyl angesucht haben, sind verdächtig, die erst 13-jährige Leonie vergewaltigt und getötet zu haben. Einige Antworten auf die Frage, ob die vier eher eine Ausnahme oder die Regel unter den hier lebenden Afghanen sind.


"Wie alle anderen in Österreich bin ich zutiefst betroffen, als Frau und als werdende Mutter - im August erwarte ich auch ein Mädchen. Ich kann mir nicht vorstellen, was Leonie in ihren letzten Stunden durchgemacht hat, wie schrecklich das für die Eltern sein muss. Mein tiefstes Mitgefühl, mein Beileid!", sagt Elham Bahrami. "Es ist schrecklich, nicht so leicht zu verdauen. Mein persönliches Mitgefühl den Eltern", sagt Hussein Z. "Der Schock und die Betroffenheit vom grausamen Mord sitzen noch immer tief. Der Familie und den Freunden des Mädchens gilt mein aufrichtiges Beileid", sagt Karoline Edtstadler. "Die grausame Tat, die in Wien begangen worden ist, macht mich zutiefst betroffen und wütend", sagt Sebastian Kurz.

Die 28-jährige Studentin Elham Bahrami und der 33-jährige Hussein Z. haben beide die afghanische Staatsbürgerschaft. Sie sind beide nach Österreich geflüchtet, beide im Verein "Neuer Start" engagiert, wo seit 2010 jene, die schon länger in Österreich sind, neu aus Afghanistan Kommende unterstützen. Sie gehören zu den 44.002 Menschen mit afghanischer Staatsbürgerschaft, die hier leben.

Gegen vier weitere im Alter von 16, 18, 22 und 23 Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Vergewaltigung mit Todesfolge, was den gleichen Strafrahmen wie Mord zur Folge hat, und Missbrauchs einer wehrlosen Person. Bei dieser Person handelt es sich um Leonie aus Niederösterreich, erst 13 Jahre alt. Sie wurde nach der Tatnacht am Samstag, 26. Juni, um 7 Uhr früh in Wien-Donaustadt auf einem Grünstreifen tot aufgefunden.

Die vier Tatverdächtigen hatten um Asyl angesucht. Zwei haben bereits negative Bescheide, bei einem wurde der subsidiäre Schutz, also eine befristete Aufenthaltsberechtigung wieder aberkannt. Die Beschwerdeverfahren aber laufen noch. Weil die drei älteren Afghanen vorbestraft sind - R. wegen Suchtmitteldelikten, A. ebenfalls, zudem wegen räuberischen Diebstahls, S. wegen Körperverletzung, versuchter schwerer Nötigung und Nötigung zu einer geschlechtlichen Handlung - ist die Debatte auf höchster politischer Ebene in Richtung "Afghanen sind zum Schutz von Österreicherinnen abzuschieben" abgeglitten.

Aufladen der Debatte

Zahlreiche Vertreter der FPÖ überbieten sich seither mit Forderungen nach einem restriktiveren Asylrecht und Abschiebeoffensiven. Auch Kanzler Kurz versprach, "dass wir alles tun werden, damit die Täter mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden." Er brachte ebenfalls das Asylrecht zur Sprache, twitterte: "Mit mir wird es einen Stopp der Abschiebungen nach Afghanistan und eine Aufweichung der Asylgesetze gegenüber straffälligen Asylwerbern niemals geben!" Letzteres hat zwar niemand gefordert, Kanzleramtsministerin Edtstadler, ebenfalls ÖVP, berief in Folge des Falles einen runden Tisch ein. Sie sprach zwar von einem "vielschichtigen Problem", sagte aber ebenfalls: "Wer in unser Land kommt und Schutz sucht, hat unsere Gesetze und Werte zu respektieren. Wer nicht, kann hier nicht bleiben und darf nicht selbst zur Gefahr werden."

Opferschutz-Expertinnen, darunter Maria Rösslhumer vom Verein Autonome Frauenhäuser, sagten zwar ebenfalls, Abschiebungen sollten durchgeführt werden, sofern die Gesetzeslage das hergebe. Sie versuchten zudem, auf die Versäumnisse von Justiz, Polizei, Jugend- und Bewährungshilfe in der Prävention hinzuweisen. "Morde kündigen sich immer an", sagte Rösslhumer. Sie zeigte sich aber auch "besorgt über die Verquickung der Asyl- und Abschiebedebatte mit Gewaltschutz".

Differenziertere Sichtweisen

Andrea Brem, Geschäftsführerin der Wiener Frauenhäuser, betont im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Unter den Menschen, die nach Österreich geflüchtet sind, gibt es einige wenige, die jegliche Wertigkeit verloren haben." Mit Abschiebungen sei das Problem zwar aus Österreich weg, aber dann seien Frauen in anderen Ländern in Gefahr. Bei jenen, die bereits auffällig wurden, müssten die Behörden daher deren Gefährlichkeit einschätzen. "Bei hohem Gefährdungspotenzial braucht es kein Mitleid, sondern enge Kontrolle und Gefängnisstrafen." Außerdem fordert Brem, "keinesfalls zu verallgemeinern, weil man damit die überwiegende Mehrheit von Geflüchteten, die nicht gewalttätig sind, diskriminiert."

Elham Bahrami berichtet von Kindern und Jugendlichen aus der afghanischen Community, die genau das, Mobbing, Diskriminierung und Ausgrenzung in der Schule und bei der Arbeit befürchten: "Diese Täter müssen hart bestraft werden, ich finde es aber nicht in Ordnung, Afghanen, die seit Jahren friedlich in Österreich leben, zu Mitschuldigen zu machen." Hussein Z. warnt davor, Kriminelle nur abzuschieben, sondern objektiv vorzugehen - nicht aus falsch verstandenem Mitleid, sondern: "In Ländern wie Afghanistan sind Behörden korrupt. Da sind Täter oft rasch wieder auf freiem Fuß . In einem Rechtsstaat wie Österreich erhalten sie die Freiheitsstrafe, die sie verdienen."

Die polizeiliche Kriminalstatistik von 2020 zeigt, dass von den 276.344 angezeigten und ermittelten Tatverdächtigen 1,8 Prozent Afghanen waren. Von den 8,93 Millionen Einwohner machen die 44.002 mit afghanischer Staatsbürgerschaft aber nur 0,49 Prozent der Bevölkerung aus. Bei Sexualdelikten gab es 189 afghanische von insgesamt 5.766 Tatverdächtigen, also 3,3 Prozent. Bei Vergewaltigungen waren es 47 von 867 Anzeigen, also 5,42 Prozent. Eine Auswertung der Statistik Austria für die "Wiener Zeitung" zeigt, dass die Quote der Verurteilten bei Menschen afghanischer Staatsbürgerschaft im Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt rund fünf Mal so groß war. Dass das in Medien und mancher Politik im Zentrum steht, "schürt Angst und Hass", sagt Hussein Z. Gewalt und Kriminalität sind weltweit ein Thema, das kann man nicht nur auf Afghanen abwälzen."

Die Analyse der Statistiken

Für das Innenministerium analysierte das IHS die Kriminalstatistiken von 2008 bis 2018. Menschen aus Afghanistan sind demnach im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung "unter den Tatverdächtigen um das Vierfache überrepräsentiert", bei Sexualdelikten gebe es eine "sieben Mal so hohe Belastung". Zugleich ließen die empirischen Ergebnisse der Studie "keinen direkten Zusammenhang von Sexualdelikten und afghanischer Staatsbürgerschaft erkennen".

Zugewanderte aus Afghanistan seien laut Studie "schneller in der Anzeigenstatistik wiederzufinden"; es könne auch zu "Doppelzählungen" kommen. Bei Suchtmitteldelikten sind sie im Vergleich zu gleichaltrigen Männern in Österreich überrepräsentiert. Die höhere Anzahl bei Sexualdelikten sei aber mit der Alters- und Geschlechterverteilung zu erklären. Laut Statistik Austria sind 55 Prozent der hier lebenden in Afghanistan Geborenen zwischen 18 und 34 Jahre alt und zwei Drittel männlich. Zum Vergleich: Bei in Österreich geborenen Personen sind 20 Prozent in diesem Alter und 49 Prozent Männer. Von 621 Verurteilten aus Afghanistan im Vorjahr waren 97 Prozent männlich, 88 Prozent zwischen 14 und 35 Jahre alt.

Prävention im Vorfeld

Isabel Haider vom Institut für Strafrecht und Kriminologie sagt, dass 2019 81 Prozent der in Österreich angezeigten Morde und Mordversuche, 99 Prozent der Vergewaltigungen von Männern begangen wurden. Weltweit seien Männer unter 30 Jahren in der Gewaltkriminalität überrepräsentiert. "In der Erziehung von Buben wird ein höheres Risikoverhalten, bei Männern später ein höheres Gewaltlevel akzeptiert, während Gefühle zeigen unterdrückt wird."

"Dass jüngere männliche Altersgruppen stark überrepräsentiert sind und zudem Flucht und Integration nicht im familiären Verband erfolgen, sondern Personen in der Regel unbegleitet sind, gelten - wenig verwunderlich - als spezifische Risikofaktoren" für Kriminalität, so die IHS-Studie. Als Mittel, um diese zu minimieren, schweben Polizeiexpertinnen und -experten eine "härtere Gangart" gegen ein möglicherweise fehlendes Rechtsbewusstsein wie auch Integration, Bildung und Erwerbsarbeit sowie Unterstützung bei der sozialen Integration über gemeinsame Aktivitäten von Menschen aus Afghanistan mit anderen in Österreich Lebenden vor.

Zwar sieht das Integrationsjahrgesetz Wertkurse vor, das reicht laut Migrationsforscherin Judith Kohlenberger aber nicht. "In ländlichen Gegenden werden unbegleitete Minderjährige oft von Familien betreut, da passiert sehr viel Integration". Für flächendeckendes Mentoring als Prävention aber gebe es nicht genügend Ressourcen genauso wenig wie für Psychotherapie für Kriegstraumatisierte, die als Prävention sinnvoll wäre. Aus Studien weiß man, dass Flüchtlinge afghanischer Herkunft stärker von psychischen Belastungen betroffen waren als jene aus dem Irak und Syrien. Zwar haben Flüchtlinge generell doppelt so häufig Angststörungen wie die österreichische Wohnbevölkerung, psychotherapeutische Leistungen werden aber nur gleich oft in Anspruch genommen.

Erich Lehner vom Dachverband für Männerarbeit schlägt für jene mit einem Bild vom dominanten Mann Sozialarbeit als Prävention vor. "Das gibt es uns auch hier, aber Sozialisation und Gesetze, haben es geschafft, dass extreme, gewalttätige Ausformungen nicht so oft Wirklichkeit werden."

Bahrami setzt sich für Prävention ein, "Integration ab Tag eins stattfinden, über Sport, das Sprache erlernen, positive Beschäftigung, damit Jugendliche nicht in der falschen Gruppe landen." Männer und Frauenrollen seien anders, auch im Iran, wo die Afghanin geboren wurde. Sie selbst habe sich als Frau in Österreich gleich sicher gefühlt: "Es braucht Zeit, bis auch Männer Gleichberechtigung Ernst nehmen" - bei älteren, die bereits verheiratet nach Österreich kommen, vermutet sie länger als bei jungen Flüchtlingen. Der Verein "Neuer Start" bietet für jene, die neu aus Afghanistan kommen, neben Sport wie Volleyball und Kultur auch Workshops zur Gewaltprävention, sagt Hussein Z., "wo wir Menschen, die neu angekommen sind, ein klares Männer- und Frauenbild vermitteln - mit Frauen auf Augenhöhe zu kommunizieren und Kompromisse zu schließen."