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Konservativ-Sein als Tochter der Zeit

Von Walter Hämmerle

Politik
Am Donnerstag wird eine überparteilich und interdisziplinär angelegte Festschrift unter dem Titel "Demokratie braucht Meinungen. Andreas Khol zum 80. Geburtstag", herausgegeben von Thomas Köhler und Christian Mertens, präsentiert.
© Hämmerle

"Sexualmoral ist für die Menschen da": Der ÖVP-Politiker Andreas Khol feiert 80. Geburtstag.


Geboren auf der Ostsee-Insel Rügen, aufgewachsen erst in Süd-, dann in Nordtirol, Beamter beim Europarat in Straßburg, unter Felix Ermacora zum Verfassungsrechtler habilitiert, verheiratet seit 1965, sechs Kinder - und seit 1974 ÖVP-Politiker in vielerlei Gestalt und Funktion, darunter als Klubchef und als Nationalratspräsident: So ungefähr liest sich im Telegrammstil die Biografie von Andreas Khol, der am  14. Juli seinen 80. Geburtstag feiert. Khol zählt zum konservativen Lager, dem er mit pointierten Zitaten Gehör und mit knorriger Mimik Gestalt verschafft. Die liberale und kunstaffine Seite des bekennenden Elfriede-Jelinek-Lesers kommt dabei meist zu kurz. Es gibt beide dennoch. Im Folgenden ein Gespräch über Konservativ-Sein und die ÖVP.

"Wiener Zeitung": Herr Khol, Sie gelten als konservativer Kopf - wo findet man da in einer unübersichtlichen Gegenwart Halt und Orientierung?

Andreas Khol: Die Grundsätze, die ein Konservativer meiner Art befolgt, also ein christdemokratischer Konservativer, erweisen sich immer mehr als menschengerecht und breit akzeptiert: Das Leitbild der ökosozialen Marktwirtschaft hat, wie zuvor die soziale Marktwirtschaft, einen Siegeszug hinter sich und bildet heute den Kern der EU-Programmatik. Tatsächlich haben sich beide allen materialistisch-marxistischen Alternativen als weit überlegen erwiesen.

Wie passt das zur Veränderung von Ehe und Familie, Sexualität, Religion oder der Unterscheidung von privat und öffentlich - alles für Konservative zentrale Werte und Normen?

Ich sehe diese Entwicklungen differenziert. Es ist eine der Herausforderungen unserer Zeit, bewährte Grundwerte an neue Gegebenheiten anzupassen. Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Die Grund- und Freiheitsrechte in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre und des Briefgeheimnisses sind durch die Möglichkeiten der Digitalisierung massiv bedroht. Wie zu Zeiten der Inquisition werden im Rahmen der Ermittlungen rund um die Ibiza-Affäre die vorgeblichen Interessen des Staates den Grundrechten Einzelner übergeordnet und diese so ausgehöhlt. Deshalb bin ich mit etlichen Experten der Überzeugung, dass die Strafprozessordnung an die Digitalisierung angepasst werden muss.

Was Ehe, Familie und Sexualmoral betrifft, so muss man sehen, dass diese Entwicklung der Europäische Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Grundrechtsschutz vorantreibt. Die Lage in Österreich war stark von der katholischen Sexualmoral geprägt, die jedoch längst von einer großen Mehrheit der Katholiken und der Menschen insgesamt nicht nur nicht mehr gelebt, sondern sogar ausdrücklich abgelehnt wird. Eine Sexualmoral ist aber für die Menschen da und nicht für die Bücher. Die Aufhebung der genannten Diskriminierungen entspricht genauso dem Naturrecht - und hier bin ich klar Naturrechtler - wie einem wertkonservativen Denken.

Also keine Vorbehalte gegen neue Familienbilder und homosexuelle Partnerschaften?

Nein, für mich ist der Familienbegriff wesentlich großzügiger und umfassender geworden. Trotzdem halte ich die Familie weiter für einen Grundpfeiler unserer Gesellschaft, aber sie kann vielerlei Formen annehmen. Dazu zählen auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Kinder betreuen. Wichtig ist allein, wie mit Kindern umgegangen wird und dass sie die Liebe erhalten, die sie brauchen. Die Anfeindungen von verschiedenen Seiten sind deshalb vor allem eine Aufforderung, das nicht zu tun, was Giuseppe Tomasi di Lampedusa im Roman "Der Leopard" so umschrieben hat: Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.

Was bedeutet das für den Staat, insbesondere den Nationalstaat?

Der Nationalstaat ist nach wie vor ein gültiges Konzept, das noch dazu in Teilbereichen ein Revival feiert. Aber für Europa muss man ihn relativieren: Als 80-Jähriger bin ich jetzt seit bald 65 Jahren Befürworter eines europäischen Bundesstaats. In dieser Entwicklung hin zur politischen Union mit immer größer werdender Einheit wird der Nationalstaat zu einer sich scheibchenweise verändernden Größe, die irgendwann in den nächsten hundert Jahren einem Bundesstaat US-amerikanischer Prägung entsprechen wird. Gegen dieses Ziel sträuben sich Ungarns Premier Viktor Orban und andere, ich befürworte es.

Ist Orban ein Konservativer?

Nein, er ist ein Reaktionär.

Wer ist denn der härteste Gegner, der ärgste Feind eines Konservativen? Einst waren es Sozialdemokraten . . .

Es gibt auch konservative Sozialdemokraten, die an ihrem Wertgefüge festhalten. Für mich als konservativen Christdemokraten ist der Marxismus nach wie vor die zentrale Herausforderung, zumal es mächtige Staaten wie China gibt, die zwar ökonomisch dem Marxismus abgeschworen haben, aber in ihrem gesellschaftlichen Überbau ungebrochen auf einen marxistischen, auf Zwang aufgebauten Staatsapparat setzen. Der zweite Gegner ist der überzogene Nationalismus mitsamt sämtlichen damit verbundenen rassischen Überlegenheitsfantasien, die heute oft unter dem Schlagwort der "illiberalen Demokratien" firmieren.

Und das aktuelle Verhältnis zur Sozialdemokratie?

Das sozialdemokratische Jahrhundert ist lange vorbei, und es gibt kaum noch erfolgreiche sozialdemokratische Volksparteien, die in Europa an der Regierungsspitze stehen.

Man kann es auch so sehen, dass sich in wesentlichen Bereichen sozialdemokratische Positionen durchgesetzt haben: expansive Geldpolitik, die auch Staatsschulden finanziert, mehr Staat als Privat, umfassende Regulierungen.

Gerade die expansive Geldpolitik ist ein Fall, wo alte Dogmen, die als beweisbare Tatsachen verkauft wurden, jetzt in einer Weise neu gedacht werden, die wie die neue Sexualmoral auch mir als Konservativem gefallen. Andere Beispiele sehe ich zur Hauptsache als Folgen der Pandemie, die wieder verschwinden werden.

Die Entwicklung der "Neuen ÖVP" unter Sebastian Kurz wird von Gegnern, zunehmend aber auch von neutralen Beobachtern kritisch analysiert. Da ist zum einen der Umgang mit Justiz und Medien, zum anderen gibt es umstrittene europapolitische Interventionen.

Ich habe, so wie Sie, sehr genau die Analyse des "Economist" über Sebastian Kurz gelesen, die ja aus einer betont europhilen Position heraus formuliert ist. Aus dieser Perspektive hat man dem Kanzler drei Dinge vorgeworfen: die Ablehnung des UNO-Migrationspakts, den hinhaltenden Widerstand im Rahmen der "Sparsamen Fünf" gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden und seine Kritik an der Impfstoffverteilung in der EU. In allen drei Punkten hat Kurz folgerichtig gehandelt. Allerdings habe ich auch den Schlusssatz dieser harten Analyse noch gut in Erinnerung, der sinngemäß lautet: Wenn Kurz sich korrigiert, hat er eine große und lange Karriere vor sich.

Nachdem über Jahrzehnte die Konfrontation zwischen SPÖ und FPÖ die Innenpolitik bestimmt hat, haben sich jetzt ÖVP und Blaue als beste Feinde auserkoren. Wie viel Dissens steckt tatsächlich zwischen den Ex-Partnern?

Wir haben jetzt zweimal mit der FPÖ die Möglichkeit einer bürgerlichen Regierung versucht, beide Male ist es an der Regierungsunfähigkeit sowie fehlendem Führungspersonal und Anstand der FPÖ gescheitert. Daher ist dieses Projekt auf absehbare Zeit keine Option. Das Problem ist, dass auch die SPÖ als einzige Alternative zur Koalition mit den Grünen ihre personellen und politischen Konflikte erst lösen muss.

Apropos Anstand: Diesen sprechen Kritiker auch der Neuen ÖVP ab.

Hier empfehle ich, den U-Ausschussbericht und die laufenden Strafverfahren abzuwarten. Persönlich halte ich die Vorwürfe gegen den Kanzler und Finanzminister Gernot Blümel für ungerechtfertigt, eine "campaign".

Was würde in der ÖVP geschehen, sollte Kurz tatsächlich stürzen?

Darauf gibt es keine gesicherte Antwort. In solchen Fällen gelten die Statuten, da gibt es Stellvertreter, einen Parteitag, Menschen, die in die Verantwortung kommen. Ich habe mir darüber nicht den Kopf zerbrochen. Spekulationen über unwahrscheinliche Szenarien sind Fantasien.