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Warum das Wohnzimmer zur Schule wird

Von Lydia Mitterbauer

Politik

7.515 Kinder wurden heuer von der Schule abgemeldet. Marie ist eines dieser Kinder. Sie wird nun zuhause unterrichtet.


Für tausende Kinder ging am Montag die Schule wieder los. Auch für die achtjährige Marie* waren die Ferien vorbei. Mit dem neuen Schuljahr hat sie die dritte Klasse Volksschule erreicht. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es jedoch einen großen Unterschied: Sie wird kein Klassenzimmer mehr betreten. Künftig wird sie zuhause unterrichtet - von ihrer Mutter.

"Natürlich hat es viel mit Corona zu tun", sagt Maries Mutter Andrea Maier*. Der Wechsel zwischen Fernunterricht und Schule vor Ort habe ihrem Kind zugesetzt. Da die Familie weiter weg vom Schulstandort als ihre Mitschüler wohnt, fühlte sich Marie bereits vor der Pandemie in einer Außenseiterrolle, durch Corona sei sie dann völlig isoliert gewesen. "Ich gehöre nicht zu den Corona-Leugnern. Aber wie man mit den Kindern jetzt umgeht, das muss nicht sein", sagt Maier.

Sie war sich sicher, dass auch in diesem Schuljahr wieder Schulen schließen werden. Kurz vor den Sommerferien entschied sie, ihre Tochter nun selbst zu unterrichten. Ob die Schule von Montag bis Freitag oder auch einmal von Mittwoch bis Sonntag stattfindet, bestimmt die Familie selbst.

Marie ist nicht die Einzige, die in diesem Schuljahr zuhause unterrichtet wird. 7.515 Kinder wurden heuer von ihren Eltern österreichweit von der Schule abgemeldet. Vergangenes Jahr waren es noch 2.600 Kinder.

Heimunterricht bedeutenicht Systemgegnerschaft

In Österreich gibt es keine Schul-, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht. Häuslicher Unterricht oder an Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht (diese dürfen keine Schulzeugnisse ausstellen) muss nur bis zum ersten Schultag angezeigt werden. Eine Schulabmeldung kann nur untersagt werden, "wenn mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die (...) Gleichwertigkeit des Unterrichtes nicht gegeben ist". Am Ende des Schuljahres legen die Kinder dann eine Externistenprüfung an einer "normalen" Schule ab. Besteht ein Kind diese nicht, darf es für das kommende Schuljahr nicht mehr abgemeldet werden, sondern muss die Schulstufe an einer Schule mit Öffentlichkeitsrecht wiederholen.

Während Maier vom Heimunterricht überzeugt ist, zeigt sich Bildungsexperte Stefan Thomas Hopmann von der Universität Wien skeptisch. "Kinder lernen nicht, mit anderen zu lernen", sagt Hopmann. "Schule ist nicht alleine ein Ort der Wissensvermittlung". Der Lernstoff stelle beim Heimunterricht zumeist kein Problem dar. Der Kern der Schule jedoch - nämlich "die Verständigung über die Welt" - werde versäumt.

Warum heuer so viele Eltern ihre Kinder von der Schule abgemeldet haben, ließe sich laut Hopmann nicht genau sagen. In Österreich muss keine Begründung für eine Schulabmeldung abgegeben werden. Laut Bildungsministerium liege es aber auf der Hand, dass es mit der Pandemie zu tun habe. Hopmann sagt allerdings, dass neben Corona auch die Ablehnung und Unzufriedenheit mit dem Schulsystem, die es schon davor gab, bei vielen eine Rolle gespielt haben dürfte.

"Man kann nicht sagen, dass das Schulsystem für jeden passt", sagt Sarah Wolf*, die ihren hochbegabten Sohn jahrelang zuhause unterrichtet hat und nach wie vor im Austausch mit anderen Heimunterrichtenden steht. Genauso wie Hochbegabung seien Autismus und starke Legasthenie oft Ansporn, Kinder von der Schule zu nehmen. Heuer dürften sich die Gründe verschoben haben. "Die meisten sind mit den Entscheidungen der Regierung nicht zufrieden, es hat nichts mit dem Kind per se zu tun", so Wolf.

"Echten" Heimunterrichtenden sei es mitunter unangenehm, wenn Eltern nun aus Angst oder Trotz handeln. Denn die breite Masse würde Heimunterrichtende häufig für Systemverweigerer halten. Oft werde man dargestellt, "als würde man dem Kind etwas antun". Dabei bedeutet die Umstellung in vielen Fällen Jobverzicht sowie zeitliche und finanzielle Einschränkungen für die Eltern. Auch die Reaktionen auf Maiers Entscheidung waren alle sehr ähnlich, nämlich "eher negativ", wie sie erzählt. Sie tue es aber, damit ihr "Kind positiv in die Zukunft schauen kann".

Geplante Verschärfung der Regeln für Heimunterricht

Im Bildungsministerium wird nun bereits an neuen Regeln für den Heimunterricht gefeilt. Geplant sind verpflichtende Beratungsgespräche mit den Eltern. Diesen müsse bewusst sein, was eine Abmeldung in der Praxis bedeutet. Die Schule falle als sozialer Ort weg, von den Lehrern gibt es keine Unterstützung. Künftig werden außerdem die Bildungsdirektionen in den Bundesländern festlegen, an welchen Schulen die Externistenprüfungen stattfinden. Zusätzlich ist eine Prüfung schon nach dem ersten Semester geplant. Auch Lerngruppen aus mehreren Kindern seien nicht erlaubt. Derzeit ermittelt die Bezirkshauptmannschaft Grieskirchen (OÖ) bereits in einem Verdachtsfall. Ein ehemaliger Volksschuldirekter hat dort einen Verein gegründet - als Betreuungsangebot für Eltern. Wird der Heimunterricht aber zu einer schulähnlichen Einrichtung, greife das Privatschulgesetz.

Ob es für Marie ein Comeback an der Schule gibt, ist ungewiss. "Als Erstes müsste sie sagen, dass sie lieber wieder in die Schule will", sagt ihre Mutter. Außerdem brauche es laut Maier grundsätzliche Veränderungen an der Schule. "Mehr Misstrauen in das Schulsystem" werde laut Hopmann wohl auch nach Corona bleiben: "Jedes zweite Kind in Österreich nimmt Nachhilfe. Das ist nicht vertrauenserweckend." Eltern würden wohl auch künftig versuchen, ihre Ideen zu guter Bildung umzusetzen.

* Namen von der Redaktion geändert