Der Grazer ÖVP-Parteivorstand hat am Montagabend nach dem Debakel bei der Gemeinderatswahl die offizielle Staffelübergabe von Langzeit-Bürgermeister Siegfried Nagl an seinen Nachfolger Kurt Hohensinner vollzogen. Nagl war noch am Sonntagabend, vor der Verkündung des vorläufigen Ergebnisses, als Chef der Grazer Volkspartei zurückgetreten. Die Wahl des neuen Obmannes fiel einstimmig aus.
Die vierte Amtszeit als Bürgermeister wird Nagl bis zur konstituierenden Sitzung, die voraussichtlich Mitte November stattfinden soll, noch beenden - dann zieht er sich zurück. Nagl hatte bei seinem fünften Antreten bei einer Gemeinderatswahl in Graz statt eines von allen Seiten erwarteten ersten Platzes eine herbe Niederlage einstecken müssen. Die ÖVP verlor rund zwölf Prozentpunkte und sackte von knapp 38 Prozent auf nicht einmal 26 Prozent (ohne Briefwahl) ab. Nagl hatte umgehend Hohensinner als Wunschkandidaten für seine Nachfolge genannt. Der 43-Jährige wird auch schon die anstehenden Gespräche mit Wahlsiegerin Kahr führen.
Bewegende Worte nach Amokfahrt
Siegfried Nagl (ÖVP) regierte Graz 18 Jahre lang, davor war er - seit 1998 - Stadtrat. Im Gedächtnis wird wohl Nagls Hang zur überschwänglichen Präsentation von Luftschloss-Projekten bleiben. In Erinnerung bleibt aber auch einer der berührendsten Momente seiner Amtsführung: Als er vor einem von tausenden Menschen besuchten, aber totenstillen Hauptplatz jene Worte fand, die der von der Amokfahrt 2015 getroffenen Stadt Trost gaben.
Was bleibt von einem Stadtoberhaupt, das 18 Jahre lang regierte, städtebaulich oder in der kollektiven Erinnerung der Bevölkerung? Für gewöhnlich sind es größere Bau- oder Kulturprojekte. Murinsel und Kulturhaus - auch "Blaue Blase" oder "Friendly Alien" genannt - schaffen es zwar regelmäßig in Dokus oder Kulturmagazine auf Arte oder in 3sat, aber einen hundertprozentigen Stolz darauf haben die Grazer nicht entwickelt. Zudem hat Nagl diese Landmarken nur teils mitverantwortet. In die Wege geleitet haben diese beiden Bauten des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2003 Nagls Vorgänger, Kulturstadtrat Helmut Strobl als ÖVP-Stadtparteichef und SPÖ-Legende Alfred Stingl als Bürgermeister.
Nagls Projekte hatten zumeist eines gemeinsam: Sie waren für die Stadt zu teuer und für die Realisierung fehlten die Partner - Stichwort Winterolympia-Bewerbung 2026, Mur- oder Plabutschgondel, Bienenstockgarage oder die an den Stadtgrenzen endende Mini-Metro. Man glaubte Nagl gerne das ehrliche Bestreben, die Stadt voranzubringen. Doch oft erfuhren potenzielle Partner - wie auch die Bevölkerung - kurzfristig aus den Medien, was auf sie zukommen sollte und was schließlich viel Geld kosten würde. Dass potenzielle politische Partner in Stadt, Land und Bund dann wenig Veranlassung verspürten, sich hinter die - teuren - Vorhaben zu stellen, schien der Bürgermeister bisweilen als persönliche Kränkung zu empfinden.
Immobilien-Boom mit Folgen
Was an Nagl auf jeden Fall erinnern wird, ist ungezügelter und bisweilen nach Goldgräberstimmung in der Immobilienbranche gemahnender Bauboom bei Mehrparteienhäuser, die sich nicht gerade durch städtebaulichen Anspruch auszeichneten - siehe neuer Stadtteil Reininghaus, bei dem nach Ansicht vieler Bürger die Chance auf große städtebauliche Entwürfe verpasst wurde. Zudem diente ein Gutteil der Wohnungen eher Anlegern als Mietern - in Graz stiegen die Miet- und Kaufpreise trotzdem in für nicht wenige unerschwingliche Höhen. Der Nagl von seinen politischen Mitbewerbern verpasste Name "Beton-Siegi" mag in der Form unverdient sein, traf aber offenbar einen Nerv der Bevölkerung. Stichwort Bevölkerung: Unter Nagls Ägide wuchs die zuvor Jahrzehnte stagnierende Stadt rasch, kratzt 2021 an der Marke von 300.000 Hauptwohnsitzen.
Dies kam nicht von ungefähr: Vier Universitäten, von Nagl und der Landesregierung stets gefördert, zogen pro Jahr bis zu 60.000 Studenten an. Die südlich anmutende Landeshauptstadt liegt attraktiv zwischen Hügeln, was im Winter die Luftgüte drastisch drückt. Gegen die Luftverschmutzung ging Nagl stetig an. Der Fernwärmeausbau in seiner Ära verbesserte vieles, doch der motorisierte Individualverkehr blieb bis heute ein ungelöstes Problem. Die Attraktivität der Stadt in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht ist zugleich ihr Fluch: Zehntausende Auto-Pendler sorgen tagtäglich für dicke Luft.
Nicht, dass Nagl und seine Stadtregierung untätig geblieben wären: Der mit Hilfe von Bund und Land erneuerte Hauptbahnhof samt der unterirdischen Verlegung der Straßenbahngleise schuf einen attraktiven Verkehrsknoten. Die Belebung der Annenstraße, der einstigen Prachtstraße vom Bahnhof in die Innenstadt, gelang trotz mehrerer Anläufe nicht, sie wäre ein Schlüsselpunkt für Innenstadtgestaltung.
Murkraftwerk sorgte für Zerwürfnisse und neue Wege
Eine wesentliche Neugestaltung des Raumes entlang der Mur schaffte Nagl mit seiner Beharrlichkeit in Sachen Murkraftwerk im Süden von Graz. Erbittert bekämpft von Umweltschützern und auch Grund für das Zerwürfnis mit der KPÖ 2016, genießen nun viele Grazer die kilometerlangen neuen Wege entlang des Flusses und die neue Augartenbucht.
Ein Fall für die Habenseite von Siegfried Nagl ist jedenfalls die Etablierung des Menschenrechtsbeirates 2007, der im Auftrag der Stadt unter anderem auch die Wahlkämpfe der Parteien aus menschenrechtlicher Sicht bewertet. Meriten erwarb sich der Bürgermeister auch in seinem Umgang mit der Amokfahrt vom 20. Juni 2015 - als er selbst auf seiner Vespa beinahe ein Opfer des Täters geworden wäre, der drei Menschen tötete und mehrere Dutzend teils schwer verletzt hatte. Nagl ließ sich nicht auf die zahlreichen Spekulationen um das Motiv des Täters ein. Menschlich und emotional auftretend, fand er klare Worte bei der Ansprache am Hauptplatz: "... dieser Mensch, der Mörder" ... was für viele Angehörige immens wichtig war. "Und ich trauere auch um jene junge Frau, deren Lebensgeschichte ich nicht kenne, und die nicht einmal im Tod jemanden abgegangen zu sein scheint", sagte er auch.
KPÖ-Chefin Elke Kahr, die am Sonntag mit ihrem Wahlsieg bei der Gemeinderatswahl den Rücktritt Nagls ausgelöst hatte, fand auf eine entsprechende APA-Frage nach dem Bewahrenswerten in Nagls 18 Jahre währendem Wirken faire Worte: "Unter anderem seine Vorsitzführung in Stadtsenat und im Gemeinderat", sagte Kahr. Die sei von Sachlichkeit, Unaufgeregtheit und auch dem nötigen Humor geprägt gewesen. (apa)