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Die stürmische Republik

Von Simon Rosner

Politik
© stock adobe / Massimo De Candido

Zwei Jahre nach der Ibiza-Affäre ist wieder völlig unabsehbar, wer kommende Woche Bundeskanzler sein wird.


Vielleicht war zu lange alles zu ruhig, zu normal, zu langweilig. Es gab schon auch bewegte Zeiten in der heimischen Innenpolitik, natürlich: die wilden Grünen, der Aufstieg Jörg Haiders, die eine oder andere Parteispaltung, der EU-Betritt, die erste schwarz-blaue Koalition samt EU-Sanktionen. Im Großen und Ganzen aber war Österreich Synonym für politische Stabilität, versinnbildlicht durch die langen Phasen der großen Koalition, einer bis heute in Europa eher untypischen Regierungsform.

Dann kam die Bundespräsidentschaftswahl 2016.

Würde man die Jahre seither als unruhige Zeiten beschreiben, wäre das noch eine Untertreibung. Dass die ÖVP nach dem Verlust der Kanzlerschaft unter Wolfgang Schüssel alle drei Jahre ihre Obmänner auswechselte, ohne sich dabei jedoch tatsächlich zu erneuern, lässt sich noch als innenpolitische Folklore deuten. Obleute kommen und gehen, bei manchen Parteien eben in kürzeren Abständen. Doch mit dieser in jeder Hinsicht bemerkenswerten Bundespräsidentschaftswahl riss die Serie der Unglaublichkeiten nicht ab: ein roter Kanzler, der am 1. Mai mit einem Pfeifkonzert bedacht wird; ein Kanzler, der nie zuvor ein politisches Amt innehatte; bald wieder Neuwahlen; Schwarz wurde Türkis; das Ibiza-Video; eine Ministerentlassung; eine Abwahl des Kanzlers im Parlament; eine Expertenregierung, eine grüne Regierungsbeteiligung im Bund. Vieles davon erlebte diese einst ruhige Republik erstmals.

Strafrechtliche Ermittlungen gegen einen Bundeskanzler nicht, die gab es auch vor Sebastian Kurz. Zudem läuft bereits eine gegen ihn wegen mutmaßlicher Falschaussage vor dem Ibiza-U-Ausschuss, die zwar zu innenpolitischen Aufregungen geführt und eine aggressive Verteidigungslinie der Volkspartei ausgelöst hat, die mitunter ins Bizarre abgeglitten ist, mit jedenfalls ernstzunehmenden Angriffen auf die Justiz. Die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung war bisher dennoch gewährleistet. Gerade für den Herbst hatten sich die ÖVP und die Grünen viel vorgenommen und erste Ergebnisse geliefert.

Sondersitzung und Misstrauensantrag

Während Vizekanzler Werner Kogler am Mittwoch diese Handlungsfähigkeit weiterhin gewährleistet sah, stellte er sie tags darauf infrage. Es ist denkbar, dass Kogler am Mittwochvormittag den gesamten Akt mit den einzelnen Vorwürfen noch nicht kannte oder jedenfalls deren Tragweite nicht richtig einschätzte. Am Donnerstag sprach er dann schon von einer "neuen Dimension".

Auch das zieht sich durch die vergangenen Jahre in dieser Republik: eine oftmals höchst dynamische Situation, in der zwar viel darüber diskutiert und nachgedacht wird, welche Schritte die nächsten sein werden. Nicht selten werden fixe Ideen von der Realität überholt. Die FPÖ etwa wirft der ÖVP auch heute noch vor, die Koalition aufgelöst zu haben, obwohl die Blauen der Bedingung, dass Heinz-Christian Strache zurücktreten müsse, nachgekommen seien. In der Volkspartei erzählt man die Geschichte ein wenig anders: Es habe gedauert, bis das balearische Ereignis sickerte und von Stunde zu Stunde immer klarer wurde, dass es in der Koalition gar nicht mehr weitergeht.

Diesmal ist die Gemengelage aber noch ein wenig komplizierter, die Opposition sitzt auf einem anderen Hebel. SPÖ, FPÖ und Neos forderten am Donnerstag, wie schon tags zuvor, den sofortigen Rücktritt von Kurz, den es jedoch, zumindest bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe, nicht gab. Sollte dieser nicht erfolgen, wird es am Dienstag einen Misstrauensantrag gegen den Kanzler im Nationalrat geben. Die Sondersitzung wird um 10 Uhr eröffnet, die Debatte beginnt um 13 Uhr. Die türkis-grüne Mehrheit im Nationalrat könnte einen solchen Antrag zwar abwehren, aber der kleine Koalitionspartner rückt gerade immer weiter weg.

Für Opposition ist Rücktritt von Kurz ein Muss

Während die Parteiinteressen der Opposition offensichtlich sind - alles ist besser, als wenn Kurz Kanzler ist -, ist dies im Fall der Grünen ambivalenter. Die Steuerreform mit der CO2-Abgabe ist zwar vereinbart, aber noch nicht im Nationalrat beschlossen. Vor allem aber ist das Klimaschutzgesetz, gewissermaßen das Opus magnum der Grünen, das den CO2-Ausstieg gesetzlich festschreibt, noch nicht einmal fertig verhandelt. Andererseits kann man als selbstdeklarierte Antikorruptionspartei, bei allem Pragmatismus, den Regierungsarbeit immer erfordert, einem Misstrauensantrag gegen einen der Bestechung verdächtigten Regierungspartner nicht permanent die Zustimmung verweigern.

Auch das Parteiinteresse der ÖVP ist tatsächlich wohl ambivalenter, als es am Donnerstag den Anschein hatte. Erst blieb die Partei auf Tauchstation, dann regnete es abgestimmte Loyalitätsbekundungen bis hin zur Regierungsriege. Und, mehr noch: Wie 2019, als die FPÖ-Minister nach der Entlassung Herbert Kickls geschlossen zurücktraten, erklärte die ÖVP, dass es nur unter Kurz eine Regierungsbeteiligung der Volkspartei geben werde. Die Aussendung wurde von allen türkisen Ministerinnen und Ministern, auch der parteifreien, unterschrieben.

Kurz will Kanzler bleiben und mit Grünen weiterregieren

In stürmischen Zeiten kann sich die Situation aber schnell ändern. Internationale Medien berichten ausführlich, die internationale Wirkung derartiger Ermittlungen sollte man nicht unterschätzten. Trotz aller Dementis und einem wohl noch weiten Weg zu einer Anklage. Die APA berichtet zudem bereits von Rumoren an der Basis bei Bürgermeistern, die ÖVP-Landeschefs fuhren am Donnerstag allesamt Richtung Wien zu einer Krisensitzung.

Sicher ist, dass viel in Bewegung ist, die Koalition und die Kanzlerschaft von Kurz an der Kippe stehen und ein Szenario eines mittelfristigen Weiterverbleibs von Kurz im Kanzleramt am Donnerstag, bis Redaktionsschluss, die unwahrscheinlichere Variante darstellte.

Aus Sicht der Republik, also abseits der Interessen der Parteien, und bisweilen verwechseln das diese, wäre jedenfalls eine handlungsfähige und entscheidungsfreudige Regierung wichtig. Entgegen den Gerüchten, dass die Pandemie vorbei sei, ist sie dies nämlich nicht. Und in Sachen Klimaschutz sollte man keine Zeit mehr verlieren, und die Klimawende verlangt auch politische Entscheidungen, die eine Expertenregierung kaum treffen will. Jene unter Kanzlerin Brigitte Bierlein wollte jedenfalls nicht.

Allparteien-Gesprächevon den Grünen

Auf die Karte des Pflichtgefühls hat sichtbar auch Grünen-Chef Kogler gesetzt, als er am Donnerstag von der "gemeinsamen Verantwortung für unser Land" und von "Stabilität und Aufklärung" sprach und das Gespräch mit allen anderen Parteien suchte. Darauf eben dann die Reaktion der ÖVP, die den Grünen eine Weiterarbeit anbot, aber nur unter Kanzler Kurz.

Sollte der Misstrauensantrag am kommenden Dienstag angenommen werden, sollten also zumindest sechs grüne Abgeordnete mit der Opposition mitstimmen, wäre Kurz zum zweiten Mal seines Amtes enthoben werden. Das erste Mal war eine Premiere in der Zweiten Republik, ein zweites Mal stellt eigentlich eine Undenkbarkeit dar. Eigentlich.

In diesem Fall müsste Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der am Nachmittag mit allen Fraktionen im Parlament sprach und kurz vor Redaktionsschluss auch Kurz zu Gast hatte, eine neue Regierung angeloben, die im Nationalrat eine Mehrheit hat. Diese zu finden, könnte sich aber als ebenso schwierig gestalten wie für einen Neuwahlbeschluss. Auch dafür ist eine Mehrheit nötig. Das macht die Zukunft sehr ungewiss, eine Prognose dafür aber sicher: Es wird wieder ziemlich stürmisch in dieser Republik.