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Was von der türkisen ÖVP bleibt

Von Martin Tschiderer

Politik

Die ÖVP wurde unter Obmann Kurz eine andere Partei. Was wird sich wieder ändern - und was bleibt vom "System Kurz"?


"Damit es bleiben kann, wie es ist, muss sich alles ändern", lautet ein vielzitierter Satz aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas berühmtem Roman "Der Leopard". In ihm kämpft eine machtverwöhnte sizilianische Adelsfamilie gegen ihren allmählichen Bedeutungsverlust aufgrund äußerer Veränderungen. Umgelegt auf die aktuelle Situation der ÖVP ist fraglich, wie viel bleiben könnte, wie es ist, selbst wenn man praktisch alles verändern würde.

Dies scheint in der Partei aber ohnehin nicht zur Debatte zu stehen. Der Rücktritt von Sebastian Kurz als Kanzler war zwar eine tief einschneidende Veränderung, eine Zäsur für die Partei - hatte man doch über Jahre alles auf Kurz zugeschnitten und mit einer langen Amtszeit als Parteichef wie als Bundeskanzler geplant. Mit dem Wechsel von Kurz in die Position des Klubobmanns wählte man dann aber doch die Variante der kleinsten möglichen Veränderung als Ausweg aus der vorangegangenen Patt-Situation.

Die tragende Rolle der JVP

Eine große Veränderung war dagegen jene, die die Partei vollzog, als Kurz 2017 zu ihrem Vorsitzenden gewählt wurde. Als Bedingung dafür hatte Kurz nämlich die bisher weitreichendsten Durchgriffsrechte eingefordert, die je einem ÖVP-Chef zuteilwurden. Und das hohe Pokern ging auf: Kurz konnte fortan selbstständig die Bundesliste für die Nationalratswahl erstellen, bei den Landeslisten erhielt er ein Vetorecht. "Die Entscheidungskompetenz mehr zu zentrieren, war durchaus sinnvoll", sagt ein ÖVP-Mitglied zur "Wiener Zeitung". "Wenn man, so wie früher, immer versuchen muss, es allen Ländern und Bünden recht zu machen, wird man schnell zur Allerweltspartei." Demnach werde diese große Veränderung der ÖVP wohl auch nachhaltig bleiben. Einen Nachteil habe sie aber auch mit sich gebracht: Die "Filialen" in den Ländern seien "kaum noch eingebunden" gewesen.

Was sich dagegen verändern könnte: dass die Partei weitgehend unabhängig von einer klaren Ideologie agiert und ihre Prämissen - neben Umfragen - eher an Personalentscheidungen entlang ausrichtet, meint das ÖVP-Mitglied: "Zur nötigen Neuaufstellung wäre vielleicht eine Art parteiinterner ‚Weisenrat‘ sinnvoll."

Ein zentraler Baustein für die späteren Erfolge von Kurz an der Parteispitze war die JVP, der Kurz selbst von 2009 bis 2017 als Bundesobmann vorstand. In diesen langen Jahren und unter Kurz’ Nachfolger Stefan Schnöll (2017 bis 2021), seit 2018 Verkehrslandesrat in Salzburg, avancierte die JVP von einer eher peripheren Teilorganisation zu einer der wichtigsten im ÖVP-Bündesystem. Kurz nützte die Jugendorganisation zum Aufbau eines dichten Netzwerks. Nicht nur setzte er Vertrauenspersonen an Schaltstellen. Weggefährten von damals säumten später auch seinen eigenen Weg an die Parteispitze.

In der JVP intensivierte man sowohl das "Recruiting" nach außen, als auch die Kanäle nach innen, hinein in die Partei. So gründete man systematisch Ortsgruppen, auch in den weniger zentralen Lagen. "Irgendwann gab es eine Ortsgruppe in jedem der 23 Wiener Bezirke", sagt Schnöll, der trotz seines regional etwas abgelegenen Backgrounds in jungen Jahren ein enger Weggefährte von Kurz wurde, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Die Professionalisierung der Jugendorganisation habe bereits in der Zeit von Kurz als JVP-Wien-Obmann ab 2008 begonnen. "Schon damals wurde der Grundstein für die personellen Strukturen in der späteren ÖVP geschaffen", so Schnöll. Inhaltlich machte man die JVP von einer "rein gesellschaftlichen Organisation, die Feste und das Maibaum-Aufstellen organisiert" gezielt politischer, sagt Schnöll: "So wie SJ-Funktionäre für die Vermögenssteuer brannten, war es bei uns eben die Pensionsreform oder mehr direkte Demokratie in der eigenen Partei."

Hohe Schulden und Social Media

Das parteiinterne Paket für mehr direkte Demokratie, mit dem der frühere Bundesparteiobmann Michael Spindelegger einst Kurz betraute, sieht Schnöll auch als Meilenstein für die spätere Veränderung der Volkspartei unter Kurz. "Damit war unheimlich viel Einfluss verbunden", sagt Schnöll. "Es verschob die Macht von den Hinterzimmern der Partei, wo man sich Mandate und Positionen ausmachte, hin zu einem stärkeren Mandat für die Wähler."

Auch die Verjüngung, die damit einherging, werde der ÖVP über die Kurz-Obmannschaft hinaus bleiben, ist Schnöll überzeugt. Ebenso wie das Mehr an Durchgriffsrechten für den Bundesparteiobmann. "Die Einsicht, dass mehr der Wähler entscheiden soll, wer ins Parlament einzieht, als die Interessen von Landesparteien oder einzelnen Bünden, wird nachhaltig bleiben", sagt Schnöll. Die Bünde-Struktur an sich hat für ihn aber nach wie vor ihre Berechtigung. Sie stehe für eine gewisse Repräsentanz von Bevölkerungsgruppen.

Ein weiterer entscheidender Faktor für die Ära Kurz war die Intensivierung der Zusammenarbeit der JVP mit der Politischen Akademie der ÖVP, die personelle Überschneidungen mit der Jugendorganisation aufwies. Dort baute man Mentoring-Programme aus, senkte ebenfalls den Altersschnitt - und festigte das Kurz’sche Netzwerk. "Wir haben auch verstärkt längerfristige Lehrgänge eingeführt", sagt Bettina Rausch, Präsidentin der Politischen Akademie und langjährige Weggefährtin von Kurz. "Die Auswahl der teilnehmenden Personen lief viel über die JVP als Partnerorganisation."

Was der ÖVP aus der Ära Kurz, wann immer sie auch endet, jedenfalls bleiben wird, ist ein beträchtlicher Schuldenstand - wobei sie damit unter den Parteien nicht alleine ist. Die kostspieligen und so knapp nacheinander absolvierten Wahlkämpfe aus 2017 und 2019 haben ihre Spuren hinterlassen. Eine baldige Neuwahl wäre damit eine finanzielle Herkulesaufgabe - umso mehr, weil eine Novelle des Parteiengesetzes die Spenden an politische Parteien inzwischen massiv beschränkt: Seit Juli 2019 dürfen Parteien pro Kalenderjahr höchstens Spenden im Gesamtwert von 750.000 Euro annehmen. Pro Spender und Jahr sind zudem nur noch 7.500 Euro erlaubt.

Ebenfalls größere Veränderungen dürfte es für die ÖVP beim Einsatz von Social Media geben. Jedenfalls wenn ein künftiger Spitzenkandidat etwa Alexander Schallenberg statt Sebastian Kurz heißt. Die Wahlkämpfe 2017 und 2019 setzten auf eine stark zugespitzte Personalisierung, auf eine "Bewegung" für Kurz. Bereits 2017 spielten dafür die schon damals mehr als 700.000 Facebook-Fans von Kurz eine entscheidende Rolle. Der neue Bundeskanzler Schallenberg verfügt dagegen über keine auch nur ansatzweise vergleichbaren Social-Media-Reichweiten - und wohl auch über kein vergleichbares Mobilisierungspotenzial.