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Warum auch hohe Immunitätsraten Sorgen bereiten

Politik

Impfung und Genesung schützen gut, aber nicht perfekt. Die hohe Belastung der Spitäler droht längerfristig zu bleiben.


Wien. Vor exakt einem Jahr lagen 161 Personen wegen Covid-19 auf einer Intensivstation. Ein Monat später waren es dann 683, viele Operationen mussten verschoben werden, Personal aus anderen Bereichen zusammengezogen und viele Überstunden geleistet werden, um so viele Menschen gleichzeitig behandeln zu können.

Am Freitag meldeten die Bundesländer insgesamt 224 Covid-Patienten auf einer Intensivstation, das sind um gut 60 mehr als vor einem Jahr. Dennoch ist die Situation nicht zu vergleichen. Weit mehr Menschen haben einen gewissen Schutz, vor allem durch die Impfungen, die etwa zwei Drittel der Menschen in Anspruch genommen haben. Andererseits ist die Delta-Variante infektiöser und sorgt auch dafür, dass die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs erhöht ist.

Die zuletzt deutliche Zunahme der Wachstumsrate der Fallzahlen ist nicht nur in Österreich, sondern in so gut wie allen EU-Ländern zu beobachten und stellt eine Wiederholung des Verlaufs der zweiten Welle im Herbst 2020 dar. Allerdings mit anderen Auswirkungen.

Viele Tote in Südosteuropa

Selbst in Großbritannien, das seit Wochen ein sehr aktives Infektionsgeschehen zeigt, liegen sowohl Todesfälle als auch Spitalsaufnahmen wegen Covid-19 weit von vorangegangen Wellen entfernt. Die Impfrate, vor allem bei älteren Semestern, ist jedoch hoch. Dazu kommt noch, dass Großbritannien eine der höchsten Infektionsraten in Europa aufweist.

Dort, wo bisher sehr wenig geimpft wurde - in Bulgarien und Rumänien ließen sich nur rund 20 Prozent der Bevölkerung immunisieren - gehen die hohen Fallzahlen auch weiterhin mit sehr hohen Todesraten einher. Und das ist keine zufällige Korrelation. Die Schutzwirkung der Impfungen vor schweren Verläufen ist hinlänglich dokumentiert.

Doch weder die künstliche noch die natürlich durch Infektion erzeugte Immunität sind perfekt. In Österreich haben sich bis Ende August rund 1.500 Personen innerhalb eines Jahres ein weiteres Mal infiziert. Zehn dieser Betroffenen starben, wie aus einer parlamentarischen Anfrage der Neos durch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein hervorgeht.

Aus diesen Daten lässt sich herauslesen, dass zumindest innerhalb eines Jahres der Schutz auch nach einer Infektion stark ausgeprägt ist. Ebenso ist es bei der Impfung. Das deutsche Robert-Koch-Institut gibt die Schutzwirkung für eine Erkrankung (Infektion mit Symptomen) mit rund 75 Prozent an, noch höher ist der Schutz vor einer spitalspflichtigen (90 Prozent) beziehungsweise intensivpflichtigen Erkrankung (94 Prozent). Aber auch 90 Prozent stellen eben keinen perfekten Schutz dar. Und genau das führt in Verbindung mit der aktuellen Entwicklung zu Problemen.

Dazu ein Blick nach Schottland: In der Vorwoche wurden 385 vollständig Geimpfte mit einem Impfdurchbruch ins Spital eingeliefert, aber nur 119 ungeimpfte Personen. Das wirkt auf den ersten Blick irritierend, doch muss man die Grundgesamtheit beachten. In Schottland haben sich 1,4 Millionen über 60-Jährige impfen lassen, nur rund 75.000 in diesen Altersgruppen sind dagegen ungeimpft. Wie viele davon einen Schutz durch eine vorangegangene Infektion erworben haben, wird von Public Health Scotland nicht ausgewiesen.

Nur noch wenige Impfbereite

Anders formuliert: Auch wenn durch die verbreitete Immunität viel weniger Personen nach einer Corona-Infektion schwer erkranken, reichen die schweren Impfdurchbrüche gemeinsam mit den Erkrankungen der Nicht-Immunen aus, um das Spitalswesen in Schottland seit Wochen zu belasten - nicht mehr so stark, wie in früheren Wellen, aber doch mehr als längerfristig verträglich ist.

Diese Situation droht auch in Österreich, die Prognosen des Gesundheitsministeriums verheißen einen starken Anstieg der Spitalsbelegung bis November. Das muss zwar nicht so kommen, aber auch die derzeit konstant mehr als 200 Covid-Patienten auf Intensivstationen stellen langfristig eine sehr hohe Belastung dar.

Gleichzeitig - und auch das ist anders als im Vorjahr - sind die Handlungsoptionen der Politik eingeschränkt. Kontaktbeschränkungen bis hin zum Lockdown hat noch keine Regierung wieder verhängt. Das Ergebnis der Beratung zwischen der Bundesregierung und den Landeshauptleuten am späten Freitagabend war bei Redaktionsschluss noch ausständig. Die Politik hofft auf eine höhere Impfquote durch die 3G-Regel am Arbeitsplatz, eine aktuelle Studie der Uni Wien zeigt aber, dass der Pool der Impfbereiten de facto ausgeschöpft ist.(sir)