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Die psychischen Folgekosten der Pandemie

Von Martin Tschiderer

Politik

Corona sorgt für immer mehr psychische Erkrankungen. Die Krankenkassenplätze reichen bei weitem nicht aus.


Die Pandemie hat vieles verändert. Nicht zuletzt die psychische Gesundheit der Menschen. Laut einer im Oktober in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichten Studie sind Depressionen und Panikattacken im ersten Pandemiejahr weltweit um mehr als ein Viertel gestiegen. Auch in Österreich gab es massive Zuwächse bei psychischen Erkrankungen, wie eine Studie der Donau-Uni Krems zeigt. Demnach haben sich Depressionen und Angsterkrankungen im Laufe der Pandemie vervierfacht bis verfünffacht. Litten vor der Corona-Krise etwa 4 bis 5 Prozent der heimischen Bevölkerung an Depressionen, waren es im vergangenen Dezember und Jänner mehr als 25 Prozent. Auch die Zahl der Schlafstörungen hat sich während der Pandemie verdreifacht.

Psychische Erkrankungen waren aber auch davor schon auf dem Vormarsch. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ging bereits vor der Pandemie davon aus, dass im Jahr 2030 drei der fünf schwerwiegendsten Erkrankungen in Industrieländern die Psyche betreffen werden. Neben dem persönlichen Leid der Betroffenen entstehen dadurch auch enorme volkswirtschaftliche Kosten. Sie werden auf 12 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Psychische Erkrankungen sind für rund zwei Drittel aller Frühpensionen verantwortlich (53 Prozent bei Frauen, 31 Prozent bei Männern).

Gesundheitskasse stockt Kontingente auf

Diese Entwicklung fand auch Eingang in das Anfang 2020 veröffentlichte Programm der türkis-grünen Bundesregierung. Von einem "stufenweisen und bedarfsorientierten Ausbau" der Psychotherapie ist dort zu lesen. Ziel sei die "Bedarfsdeckung". Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) kündigte nun an, 20.000 zusätzliche Kassenplätze für Psychotherapie zu schaffen und sie statt wie ursprünglich geplant bis Ende 2023 bereits bis Ende 2022 auszurollen. Die Pandemie habe gezeigt, dass "eine gut ausgebaute psychosoziale Versorgung ein ganz zentraler Baustein der Gesundheitsversorgung ist", so ÖGK-Obmann Andreas Huss.

"Die zusätzlichen Kontingente sind aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Peter Stippl, Präsident des Bundesverbands für Psychotherapie, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Das Ziel der aktuellen Erhöhung sei, dass 1,23 Prozent der Versicherten Psychotherapie als Sachleistung, also komplett bezahlt von der Krankenkasse, bekommen können. In Deutschland seien es dagegen 2,5 Prozent. "Auch im Vergleich mit anderen Industrieländern liegen wir bei der Versorgung zurück", sagt Stippl.

Der Ausbau der Kontingente sei zumindest ein guter Anfang, es sei "die Bereitschaft erkennbar, dass psychische Probleme als behandlungsbedürftig und auch finanzierungswürdig anerkannt werden", sagt Ingeborg Pucher-Matzner, Präsidentin der österreichischen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, zu dieser Zeitung. Mehr als ein Anfang sei das aber nicht, so auch Pucher-Matzner: "Wir brauchen wesentlich mehr, weil der Bedarf ständig steigt." Schon vor der Pandemie habe es eine Unterfinanzierung bei den Psychotherapieplätzen gegeben. Mit den Auswirkungen der Corona-Krise werde die Finanzierung - trotz der nun zusätzlich geschaffenen Plätze - dem Bedarf noch weniger gerecht.

Die Pandemie, die zu Ängsten, sozialer Isolation, Arbeitslosigkeit und unsicheren beruflichen wie privaten Perspektiven geführt hat, habe "gerade Menschen, die mental weniger widerstandsfähig sind, stark verunsichert und belastet", sagt Stippl. Hinzu kommt: Expertinnen und Experten erwarten weitere Anstiege bei psychischen Erkrankungen, weil viele Spätfolgen der Belastung durch die Pandemie noch nicht sichtbar sind und verzögert auftauchen dürften.

Latente Probleme haben sich durch Pandemie verstärkt

Als Faustregel gilt: Wer schon vor Corona mental sehr stabil war, kam in der Regel auch mit der Dauerbelastung der Pandemie besser zurecht. Aber: "Latente Schwierigkeiten haben sich in dieser Zeit intensiv verstärkt", sagt Pucher-Matzner. Aktuell würden sehr viele Patientinnen und Patienten in die Praxen kommen, die zuvor schon gewisse Probleme gehabt hätten, durch die Pandemie aber gekippt seien. "Die Belastung war zu lang, zu intensiv, zu ungewiss." Es gebe zudem "auch eine Art soziale Kettenreaktion", sagt Stippel. "Menschen, die psychisch und mental schwächer aufgestellt sind, haben in der Regel auch die schlechteren Jobs und die niedrigeren Einkommen."

Besonders hoch ist der Anstieg der psychischen Erkrankungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen. Sie sind laut zahlreichen Studien überdurchschnittlich von den psychischen Folgen der Pandemie betroffen. So sind laut der Erhebung der Donau-Uni Krems in allen Altersgruppen über 35 Jahre weniger als ein Viertel von Depressionen betroffen. Bei den 25- bis 34-Jährigen sind es dagegen fast ein Drittel, bei den 18- bis 24-Jährigen schon nahezu die Hälfte.

Die Nachfrage nach Psychotherapie ist aktuell entsprechend hoch. Die kontingentierten Kassenplätze sind ohnehin stets ausgeschöpft. Wer Psychotherapie privat bezahlt, kann je nach Krankenkasse Zuschüsse zwischen 28 und 40 Euro pro Sitzung bekommen - für eine Therapieeinheit, die im Schnitt zwischen 90 und 120 Euro kostet. Für die rund sieben Millionen Versicherten der ÖGK, also die ganz große Mehrheit der heimischen Bevölkerung, liegt der Zuschuss bei 28 Euro. Diese werden noch dazu immer erst im Nachhinein mit Verzögerung ausbezahlt. "Viele Leute können sich eine Therapie auch mit dem Zuschuss nicht leisten", sagt Stippl. "Die müssen dann oft drei bis fünf Monate auf einen Kassenplatz warten." Eine lange Zeit, wenn psychische Probleme sich bereits zu einer Erkrankung ausgeweitet haben.

Von allen Psychotherapien werden laut Stippl rund 50 Prozent komplett von der Kasse finanziert, 30 Prozent mit Zuschuss und 20 Prozent komplett privat. Bei privat bezahlter Therapie sieht er trotz stark gestiegener Nachfrage keinen Engpass. "Wir haben in Österreich rund 11.000 berufsberechtigte Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Das sind pro 100.000 Einwohner dreimal so viele wie im EU-Schnitt." Hinzu kommen rund 3.000 Psychotherapeuten im letzten Teil ihrer Ausbildung, die unter Supervision bereits arbeiten dürfen. Das Problem sei die Kontingentierung der Kassen und damit die finanzielle Hürde für eine Therapie, nicht ein Mangel an verfügbaren Therapeuten, so Stippl.

"Investitionen in Psychotherapie rechnen sich"

Etwas anders bewertet Pucher-Matzner das Verhältnis aus Angebot und Nachfrage bei Psychotherapie: "Die Kolleginnen und Kollegen in allen Berufsbereichen berichten von einer massiv gestiegenen Nachfrage." Verhaltenstherapie, eine Psychotherapieschule, deren Wirkung bei akuten psychischen Erkrankungen besonders gut durch Studien belegt ist, werde laut Pucher-Matzner auch besonders stark nachgefragt. Und: Auch im privat bezahlten Bereich würden Plätze für Psychotherapie fehlen. Und zwar nicht nur in strukturell schlechter erschlossenen Regionen, auch in Wien. "Wenn ich Kollegen frage, ob sie freie Plätze haben, sagen sie häufig nein." Stippl nennt als "Grundübel" aber, dass Psychotherapie die einzige durch ein Kontingent gedeckelte Heilbehandlung ist: "Niemand würde auf die Idee kommen, zu sagen: Es gab heuer schon 10.000 Beinbrüche, die Behandlung des 10.001. muss selbst bezahlt werden."

Dabei ist die Wirksamkeit von Psychotherapie nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Volkswirtschaft durchaus gut belegt. Der Rechnungshof führte im ersten Halbjahr 2019 eine Studie durch, in der er Bundesländer, die viel in Psychotherapie investierten, wie etwa Salzburg, mit Ländern verglich, die in diesem Bereich nur wenig investierten, wie etwa die Steiermark. Ergebnis: In Ländern mit hohen Investitionen in Psychotherapie waren die Medikamentenkosten sowie die Zahl der Krankenstandstage und Frühpensionsanträge deutlich niedriger, mitunter sogar nur halb so hoch. "Investitionen in Psychotherapie rechnen sich", bilanziert Stippl.

"Die Zuschüsse sind viel zu gering"

Was bräuchte es aus Sicht der Fachleute, um die österreichweite Versorgungslage zu verbessern? "Entweder die völlige Aufhebung der Kontingente oder eine wirklich großzügige Erweiterung", sagt Stippl. Dazu müsste der Zuschuss auch für unselbständig Erwerbstätige, die als ÖGK-Versicherte nur 28 Euro Zuschuss erhalten, zumindest auf die 40 Euro angehoben werden, die Beamte, Selbständige, Bundesbahner oder Bauern bei ihren jeweiligen Krankenkassen erhalten.

"Die Zuschüsse sind viel zu gering", sagt auch Pucher-Matzner. Neben einer Aufhebung der Kontingente sei "dringend zu fordern", dass die psychotherapeutische Versorgung genauso geregelt und finanziert werde, wie die ärztliche im niedergelassenen Bereich. So sollte es neben Kassenplätzen auch Zugang zu Wahlpsychotherapeuten geben und die Krankenkasse wie bei Wahlärzten auch dort 80 Prozent des Kassentarifs erstatten. "Es ist nicht einzusehen", so Pucher-Matzner, "warum bei zwei Gesundheitsberufen, die beide eine Heilbehandlung durchführen, unterschiedlich vorgegangen wird."