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Die Marxistin im Rathaus an der Mur

Von Tobias Kurakin

Politik

KPÖ-Chefin Elke Kahr wird mit einer Mischung aus authentischer Sozialpolitik und überzeugter marxistischer Ideologie die erste Grazer Bürgermeisterin.


Im Volkshaus der Grazer KPÖ empfängt Elke Kahr neben der "Wiener Zeitung" zum spätabendlichen Interview auch noch eine ältere Frau, die ihre Hilfe braucht. Vorsichtig setzt sich die Frau auf eine Holzbank. Kurz nachdem sie Platz genommen hat, huscht die Wahlsiegerin und künftige Grazer Bürgermeisterin schon herbei - eine Zigarette zwischen die Zähne geklemmt, die Brille in die Haare gesteckt.

Die ältere Dame kann ihr eben begonnenes Lob über Kahrs Kraft, Eifer und Einsatz gar nicht fertig sprechen, schon bittet sie Kahr mit einem Stapel Akten in den Armen in ihr Büro. Zehn Minuten später verlässt die Pensionistin das Büro der Kommunalpolitikerin sichtlich gerührt. Schluchzend verabschiedet sie sich von Kahr mit den Worten "Sie sind die Beste - wirklich - danke". "Sie müssen links gehen, vorbei am Einkaufszentrum und dann in den 39er Bus einsteigen - dann sind sie schneller", ruft Kahr der Frau, die nicht nach dem Weg gefragt hat, noch nach.

Nahe an den Nöten der Bürger

In ihrer politischen Karriere hat Kahr unzählige solcher Gespräche geführt. Eine unerwartet hohe Stromrechnung, den Ersatz für eine kaputte Waschmaschine oder auch eine Inkassoforderung bezahlte Kahr ihren Mitmenschen aus eigener Tasche.

Mit den Bürgersprechstunden hatte schon Kahrs Vorgänger Ernest Kaltenegger Ende der 1990er Jahre begonnen. Während der damalige Bundeskanzler Viktor Klima (SPÖ) Spindoktoren im Kanzleramt engagierte, setzte die KPÖ auf Bürgernähe. Ein Ansatz, den die Grazer Kommunisten bis heute nicht aufgegeben haben. Insgesamt hat Kahr in ihrer politischen Karriere 900.000 Euro an Mitbürger überwiesen. Als Bürgermeisterin will sich Kahr eine kleine Gehaltserhöhung gönnen: "Von den knapp 14.000 Euro brutto werde ich mir dann vermutlich 2000 Euro behalten", sagt sie.

Mit diesem Stil hat es Kahr, die sich selbst als "überzeugte Kommunistin" bezeichnet, von ihren Kritikern aber oft despektierlich Robin-Hood-Politikerin genannt wird, bis ins Grazer Rathaus geschafft. Der Weg dorthin führte sie über Umwege. Ihre ersten kommunalpolitischen Gehversuche hatte die heute 60-Jährige im Alter von 17 unternommen, damals musste sie noch im Telefonbuch die Adresse der KPÖ nachschlagen. Berufsbegleitend hatte Kahr danach die Abendmatura nachgemacht und in ihrer Freizeit an Veranstaltungen der Kommunisten mitgewirkt. Um dorthin zu kommen, wo sie hin will, braucht die Grazer Politikerin heute kein Telefonbuch mehr. Kahr weiß, wo ihr Weg hingehen soll und wie sie ihn bestreiten muss: "Mit dem gleichen Engagement wie in den letzten Jahren auch, mit einer Politik für die Menschen."

1985 war Kahr noch während der Zeit des Sowjetkommunismus der KPÖ beigetreten. Geprägt hatte sie dabei vor allem ihre Herkunft. Aufgewachsen im wenig glanzvollen und vorurteilsbehafteten Bezirk Gries lebte Kahr, bis sie 18 Jahre alt war, in einer kleinen Wohnung bestehend aus Vorraum, Küche und einem kleinen Zimmer. Statt fließendem Wasser gab es einen Brunnen. Trotz der bescheidenen Verhältnisse erlebte Kahr "eine sehr glückliche Kindheit", wie sie sagt.

Kahr ist heute noch demütig. Wenn sie über ihren unterlegenen Mitstreiter spricht, zeigt Kahr Mitleid. Sie habe mit Siegfried Nagl, dem sie mit ihrem Wahlsieg eine fünfte Amtszeit als Stadtchef verwehrte, mitgefühlt, habe die menschliche Enttäuschung des ÖVP-Politikers verstanden, sagt sie. Als nach der geschlagenen Gemeinderatswahl am 26. September die erste Hochrechnung eingetroffen ist, sei sie "vollkommen überrascht" gewesen.

Im Büro mit Marx

Ehrlich verärgert wirkt Kahr nur, wenn man sie mit dem Vorwurf ihrer Kritiker konfrontiert, sie würde sich mit den Spenden und Unterstützungen Wählerstimmen erkaufen. "Ich habe noch nie jemanden gefragt, den ich unterstützt habe, von wo er kommt und was er wählt, ohnehin sind viele unserer Hilfsempfänger hier nicht einmal wahlberechtigt", meint Kahr.

Deutlich weniger Probleme hat Kahr mit der Kritik an ihrer Ideologie. "Ja, ich bin eine Kommunistin und dazu stehe ich", meint die zukünftige Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt Österreichs. Immobilienmakler müssen aber keine Angst davor haben, dass ihr Berufsstand durch die neue Grazer Stadtregierung in Ungnade fällt. Ohnehin ist die KPÖ, die den Mieternotruf in der steirischen Landeshauptstadt begründet hat, bestens mit Maklern vernetzt. So ruft mitten im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" auf Kahrs altem Nokia-Tastenhandy ein verzweifelter Mann an. Seine Frau habe ihn verlassen und er suche nun für sich und seine Kinder eine neue Unterkunft, Kahr nickt während des Gespräches mehrmals.

Als sie auflegt, entschuldigt sich Kahr und tippt eine weitere Nummer in ihr Handy. Sie ruft eine Maklerin an, schildert ihr die Situation des Mannes und hat binnen weniger Minuten eine neue Wohnung gefunden.

Neben der "Wiener Zeitung" ist auch eine Statue von Karl Marx Zeuge von Kahrs Verständnis von Politik. Der große bronzefarbene Kopf des kommunistischen Vordenkers ist ein altes Geschenk, das sie selbst "überbewertet" findet, die Ideologie, die er verkörpert, jedoch nicht. Kommunismus und Marxismus würden für "Gleichberechtigung und Gerechtigkeit" eintreten, meint Kahr voller Stolz. Sie sei der KPÖ jedenfalls nicht "wegen einer SED, einer KPdSU und schon gar nicht wegen Stalin beigetreten, sondern wegen der Ideale".

Mehr Wohnungen für Graz

Konkrete Veränderungen, die aus diesen Idealen herauswachsen, sollen nun Graz bevorstehen. Ziel der neuen Stadtregierung ist der Bau von mehreren Sozialwohnungen. Wenn dadurch Grünflächen weichen müssen - immerhin ein zentraler Kritikpunkt an der Politik von Ex-Bürgermeister Nagl - ist das für Kahr "ein notwendiges Übel". Der Ausbau des Straßenbahnnetzes an der Mur ist für die Kommunalpolitikerin indes "eine soziale sowie eine klimapolitische Lösung". Klimapolitik war für Kahr Zeit ihres Lebens immer eine Frage der Demut und des sozialen Zugangs. "Dass Grün und Klima einhergehen, war für mich in meiner Kindheit und Jugend kein Thema", sagt die 60-Jährige. Nun sitzt sie mit den Grünen und der SPÖ in der Regierung. Die Links-Koalition muss sich auf harschen Gegenwind gefasst machen, sowohl FPÖ als auch ÖVP haben bereits nach der Wahl einen fundamentalen Oppositionskurs versprochen. Kahr nimmt das freilich wie gewohnt gelassen.