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Die ambivalente Gesellschaft und die kurzsichtige Politik

Von Simon Rosner

Politik

Dass erneut ein Lockdown nötig ist, um die Gesundheitsversorgung zu sichern, stellt ein kollektives Scheitern dar.


Österreich ist das erste EU-Land, das auch im Herbst 2021 in einen Lockdown geht. Es ist zu vermuten, dass es nicht das letzte sein wird, aber auch nicht unwahrscheinlich, dass diesen Weg nicht alle Länder beschreiten müssen. Das ist Ergebnis eines politischen und gesellschaftlichen Versagens.

Österreich ist keine Insel der viralen Schrecklichkeiten. Das Virus verbreitet sich überall auf dem Kontinent. In Rumänien und Bulgarien hat es bereits so massiv gewütet, dass die Fallzahlen zwar wieder abnehmen, der Blutzoll aber dramatisch ist.

Es gibt allerdings nicht zu übersehende Unterschiede bei den Folgen auf das Erkrankungsgeschehen und damit auf die medizinische Versorgung. Auch Dänemark vermeldet Infektionsrekorde, aber nur 378 Personen liegen mit Covid-19 im Spital, 48 davon auf einer Intensivstation. Österreichs Krankenhäuser müssen dagegen 2.900 Covid-Patienten versorgen, mehr als 500 intensivmedizinisch. Das ist kein Zufall, denn in Dänemark sind 76 Prozent der Bevölkerung geimpft, in Österreich nur 65 Prozent. Dieser Unterschied entspricht der Gesamtzahl aller bisher in Österreich aufgetretenen Covid-Fälle (etwa 12 Prozent waren infiziert).

Niedrige Impfquote zieht sich quer durch Europa

Niemand kann sagen, ob auch Dänemark ohne Kontaktbeschränkungen durch den Winter kommt. Es ist aber unstrittig, dass eine hohe Impfquote das systemische Risiko für die medizinische Versorgung deutlich reduziert.

Dass Österreich und seine Nachbarn (Ausnahme: Italien) geringe Impfquoten aufweisen, muss aufhorchen lassen. Auch im jüngst viel gelobten Wien, das die Spritze den Menschen bis in den Gemeindebau hinterhertrug, hat es nur zu 65 Prozent Impfquote gereicht. Auch die riesigen Unterschiede zwischen Wein- und Mostviertel entziehen sich der trivialen Logik, wonach die Politik schuld sei.

Es muss auch von einem gesellschaftlichen Scheitern gesprochen werden; einer ambivalenten Gesellschaft, die gebildet, aber dennoch wissenschaftsfeindlich ist; die obrigkeitshörig ist und von der Politik Regeln für den Pandemie-Alltag verlangt und sich an diese hält, sich aber dann doch in großer Zahl dem schützenden Serum entzieht, um es "denen da oben" mal so richtig zu zeigen. So kommt man nicht durch eine Pandemie. Stattdessen wird Österreich nun das erste EU-Land mit Covid-Impfpflicht.

Es ist eine bittere Erkenntnis, dass der Einfluss der Politik auf das Infektionsgeschehen endenwollend ist. Das Virus lässt sich nicht wegadministrieren. Dabei ist genau das der Anspruch der Politik gewesen und offenbar auch der Menschen. Trotz Rekordinzidenzen hat sich laut Auswertungen von Google die Mobilität so gut wie gar nicht reduziert. Wie kann das sein?

Damit Pandemiepolitik wirksam sein kann, muss sie vorausschauend sein. Das hat vor allem die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt geschafft. Zu Beginn war sie immerhin noch im Krisenmanagement geeint und klar, doch auch das ließ sukzessive nach. Und das jüngste Handeln ist nur mehr als desaströs zu bezeichnen.

Wien hätte noch Alternativen zum Lockdown gehabt

Im Ziel, solche Notlagen gar nicht erst entstehen zu lassen, hat die Politik als Ganzes versagt, weil sie kurzfristig und parteipolitisch agiert. So ist sie es gewöhnt. Im Sommer wurde die Pandemie für gemeistert erklärt, obwohl die Modelle was anderes sagten.

Als die Delta-Welle ihren Anlauf nahm, wurde dann die "Pandemie der Ungeimpften" ausgerufen, wenige Wochen später wurden aber die Vollimmunisierten zur Drittimpfung gebeten. War es für die Geimpften nicht gerade vorbei?

Diese Kurzsichtigkeit hat auch dazu geführt, dass die Abnahme der Fallzahlen im September dazu beitrug, die warnenden Szenarien für den Herbst nicht mehr ernst zu nehmen. Wobei ergänzt werden muss, dass dies fast überall der Fall war. Dänemark hatte sogar alle Maßnahmen aufgehoben. Was für ein Irrtum!

Das Beispiel Wien zeigt aber, dass es nicht egal ist, was die Politik tut. Auch Wien hat die Welle nicht verhindert, das europaweit einzigartige Testprogramm und andere Maßnahmen lässt die Stadt aber besser dastehen. Die Lage ist zwar heikel, aber nicht katastrophal. Laut Experten hätte Wien deshalb mit gelinderen Maßnahmen antworten können. Das könnte auch anderswo so sein. Der Ausbau der PCR-Kapazitäten war ein Ziel im Sommer, es wurde aber von den Ländern dann nicht umgesetzt.

Während Bayern in einer sehr ähnlichen Lage regional vorgeht und die harten Maßnahmen feinziseliert einsetzt, holt Österreich wieder die 2020er-Version des Lockdowns hervor. Obwohl es mittlerweile Studien zur Wirksamkeit der einzelnen Schließungen gibt. Es gibt auch kein Ziel, etwa eine konkrete Inzidenz oder eine zu erreichende Impfquote. Das ist insgesamt schon ungenügendes Verwalten. Dennoch möglich, dass Österreich im März der Vorreiter gewesen sein wird. Lockdown und Impfpflicht hat ja noch niemand.