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Auf der Kippe

Von Martin Tschiderer

Politik
© WZ-Illustration; Foto: stock.adobe / nasharaga

Acht Wochen gaben den Ausschlag, dass Hamid seine Familie noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der Taliban aus Afghanistan holen konnte. Viele andere hatten weniger Glück.


Manchmal entscheiden zwei Monate über ein ganzes Leben. Oder sogar über mehrere. Denn wenn nur eine der vielen Hürden in diesem jahrelangen Prozess erst vier Wochen später überwunden gewesen wäre, dann hätte Hamid, der eigentlich anders heißt, seine Familie wohl nie mehr wiedergesehen. Jedenfalls nicht in Wien. Dann wären die Taliban in seiner Heimatstadt einmarschiert, bevor der letzte Amtsstempel auf dem letzten Formular getrocknet war. Dann würde seine Frau heute in Angst vor den bärtigen Kriegern in ihrer afghanischen Wohnung sitzen statt im Deutschkurs. Dann würden seine drei Töchter, 15, 11 und 10 Jahre alt, in der Früh nur vom Kinderzimmer in die Küche gehen statt in die Schule. Dann wäre Hamids Familie nämlich niemals aus Afghanistan herausgekommen. Jedenfalls nicht, solange dort die radikalen Islamisten bestimmen, was passiert.

So aber sitzt Hamid an diesem kalten Dezemberabend in einem Zimmer in Wien und sagt: "Damals hatte ich so große Angst, dass ich nicht schlafen konnte. Aber ich hatte auch großes Glück." Hamid ist Ende 40 und einst lebte er mit seiner Familie in der afghanischen Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Als Taxifahrer chauffierte er dort Fahrgäste zu Geschäftsterminen und Familientreffen. Dabei lernte er eines Tages drei Ausländer kennen. Sie drückten ihm ein paar Bibelstellen in die Hand, übersetzt ins Dari, den afghanischen Dialekt des persischen Farsi, den die Angehörigen der Hazara-Minderheit sprechen, der auch Hamid angehört. Das sprach sich schnell herum - und kam nicht gut an im mehrheitlich vom sunnitischen Islam geprägten Afghanistan. Auch nicht vor der zweiten Machtübernahme der fundamentalistischen Taliban. "Meine Nachbarn haben immer öfter darüber geredet, dass ich die Bibel lese", sagt Hamid.

Für ihn wurde das zunehmend bedrohlich. Deshalb entschloss sich Hamid im Winter 2015, zu fliehen. Zuerst von Afghanistan in den Iran, von dort weiter in die Türkei und übers Mittelmeer nach Griechenland. Es sind die bekannten Routen, die man aus so vielen Geschichten dieser Zeit kennt. Auch Hamid musste seine Familie zurücklassen. Vor allem für die drei Kinder wäre die Flucht zu gefährlich gewesen. Im Schlauchboot auf dem Mittelmeer stand auch Hamids Leben auf der Kippe, eng aneinander gepfercht mit 67 anderen Menschen. Zwei Mal fiel während der nächtlichen Überfahrt der Motor aus. Das Boot war schwer überladen. Aber wo im Laufe der Jahre Tausende kenterten und ertranken, kamen Hamid und seine Begleiter durch. Und schließlich in Europa an.

Religionsfreiheit nur auf dem Papier

Nach gewaltigen Fußmärschen und eisig kalten Nächten in den Wäldern Nordmazedoniens, Kroatiens und Sloweniens, nach Begegnungen mit aggressiven Grenzbeamten und Hunden, gelangte Hamid im Jänner 2016 schließlich nach Österreich und stellte einen Asylantrag. Stockbetten in mehreren Flüchtlingsheimen, vier Mal zog er um. Mit seiner Familie konnte er nur gelegentlich telefonieren. Hamid begann mit der Taufvorbereitung in einer Pfarre, knapp zwei Jahre nach seiner Ankunft in Österreich war er zum Christentum übergetreten.

Das Asylverfahren aber stockte. In erster Instanz wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seinen Antrag noch mit einer kuriosen Begründung zurück. In Afghanistan herrsche "Religionsfreiheit", hieß es da. Tatsächlich fand sich dieser Passus in der afghanischen Verfassung. Mit der Realität hatte das aber nur wenig zu tun. "Es war eine sehr schwierige Zeit", sagt Hamid. "Vor allem in den Nächten hatte ich Angst, dass die Polizei kommt und mich abschiebt." Im Herbst 2019 erhielt er schließlich einen positiven Asylbescheid in zweiter Instanz vom Bundesverwaltungsgericht. Seither ist er in Wien als Lagerarbeiter beschäftigt.

Erst mit dem gültigen Aufenthaltstitel konnte für Hamid die nächste Odyssee beginnen: Er stellte einen Antrag auf Familienzusammenführung, um seine Frau und seine drei Töchter nach Österreich nachholen zu können. Der Prozess zog sich über fast zwei Jahre. Üblich sind sechs bis acht Monate. Hauptgrund für die lange Dauer: Die Behörden wollten einen DNA-Test der Kinder, informierten Hamid aber nicht darüber. Erst ein Telefonat eines Freundes brachte Klarheit - nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Behörde zu erreichen. Anrufe vom Handy wurden dort nämlich grundsätzlich nicht entgegengenommen. Erst der Anruf vom Festnetzanschluss einer Schule mitsamt "offiziell" scheinender Telefonnummer brachte den Durchbruch. Im Juni 2021 gab es den positiven Bescheid für den Nachzug seiner Familie. Der DNA-Test bei den Kindern wurde letztlich nicht durchgeführt.

Klassenräume für die Mädchen

Heute lebt Hamids Familie wieder vereint im Westen Wiens. Die drei Mädchen gehen in die Schule. "Sie können bald besser Deutsch als ich", sagt Hamid. Manchmal telefonieren sie mit ihren alten Freundinnen in Mazar-e Sharif, die seit dem Einmarsch der Taliban im Sommer keinen Klassenraum mehr von innen gesehen haben. Ob sie eine Religion ausüben wollen, sollen seine Töchter später selbst entscheiden, sagt Hamid. Genauso wie seine Frau, die bald nach ihrem Deutschkurs vielleicht arbeiten kann. Das Einleben geht gut voran, auch die kalten Winter kennen alle schon aus dem gebirgigen Afghanistan.

Die meisten Afghaninnen und Afghanen aber hatten nicht so viel Glück. Die Lage am Hindukusch ist unter den Taliban desaströs, das Land steht am Abgrund. Frauen werden systematisch unterdrückt, viele dürfen nicht mehr arbeiten. Die meisten weiterführenden Schulen für Mädchen wurden geschlossen, Universitäten sind für Frauen ohnehin tabu. Ehemalige Kollaborateure der US-Truppen werden ebenso hingerichtet wie Angehörige ethnischer Minderheiten wie die Hazara. Hinzu kommen wirtschaftliche Krise und Hungersnot, die von den eingefrorenen Hilfsgeldern aus dem Ausland noch verschärft werden. Eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Taliban ist der Drogenhandel. Die weiten Mohnfelder des Landes sind der weltweit größte Lieferant für Opium, das zu Heroin verarbeitet wird. Wer heute in Afghanistan lebt, der steckt dort fest.

Auch für Hamid ist nicht alles gut. Seine 70-jährige Mutter lebt nach wie vor in Afghanistan. Der Antrag auf Familiennachzug greift nur für die Kernfamilie - Ehepartner und minderjährige Kinder. "Für die Hazara ist es unter den Taliban besonders gefährlich", sagt Hamid. Das Haus verlässt seine Mutter deshalb nur noch selten. Um gelegentlich Lebensmittel einzukaufen. Oder wenn sie krank ist. "Dann geht sie zu einer Ärztin", sagt Hamid. Zu einem Arzt darf sie unter den selbst ernannten Gotteskriegern nicht. Die Angst ist am Hindukusch wieder zum permanenten Begleiter geworden. "Immer wieder klopfen die Taliban in der Nacht an Türen", sagt Hamid. Manchmal kommen sie auch in die Wohnungen. Ein Leben auf der Kippe.