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Der Feind in der eigenen Klasse

Von Petra Tempfer

Politik
Das Opfer wird angepöbelt, zuerst leise und dann immer lauter - und schließlich jeden Tag.
© adobe.stock / mariesacha

Wenn ukrainische Flüchtlingskinder auf russische Mitschüler stoßen, sind Konflikte vorprogrammiert.


Den Schüleraustausch mit Moskau habe man bereits auf Eis gelegt, und vor allem in einer Klasse sei es zu "Animositäten eines Flüchtlingskindes gegenüber den russischen Mitschülern gekommen", sagt Josef Harold, Direktor des Schottengymnasiums, einer katholische Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht in Wien. Hier wird Russisch unterrichtet, und auch russische Staatsbürger finden sich unter den Schülerinnen und Schülern – zum Teil in derselben Klasse wie ukrainische Flüchtlingskinder. Jenes in besagter Klasse habe "deftige Worte gegen Russland gefunden", woraufhin sich die Eltern der Mitschüler an die Lehrkräfte gewandt hätten, so Harold weiter. Die Schulpastoral sei aktiv geworden, habe mit den Beteiligten gesprochen und den Konflikt abgefedert: eine Reaktionskette, die generell in Gang gesetzt werde, sobald sich Mobbing abzeichne.

Die aktuelle Situation ist besonders konfliktbehaftet. Die ukrainischen Flüchtlingskinder kommen aus einem Land, in dem seit zwei Monaten Krieg herrscht. Und damit aus einem Leben, in dem die Schulen längst geschlossen und dessen Tage diktiert vom Sirenengeheul und geprägt von der Angst in einem dunklen Bunker sind. Sie kommen aus einem Land, in dem Russland der Feind ist. Was passiert nun mit den ukrainischen Flüchtlingskindern, wenn sie in Österreich in eine Klasse kommen, in der sie neben russischen Kindern sitzen? Wie verändert sich die gesamte Klassendynamik? Lassen die täglich über den Fernsehbildschirm flimmernden Bilder des Krieges in der Ukraine den russischen Schulkameraden, mit dem man am Vortag noch sein Jausenbrot geteilt hat, schlagartig in einem anderen Licht erscheinen? Ist Mobbing die Antwort darauf?

In Österreich besuchten laut Bildungsministerium im Schuljahr 2020/21 insgesamt 8.235 Kinder und Jugendliche mit russischer Staatsangehörigkeit die Schule, 3.542 von diesen eine Schule in Wien. Bei vielen handelt es sich dabei um gebürtige Tschetschenen. Mit ukrainischer Staatsangehörigkeit waren es 1.458 Schülerinnen und Schüler in Österreich und 778 von diesen in Wien. Mittlerweile gebe es mehr als 6.000 ukrainische Kinder und Jugendliche an Österreichs Schulen, so das Ministerium auf Nachfrage. In allen Schultypen mit Ausnahme von Berufsschulen sind geflüchtete Kinder untergebracht, und Deutsch-Förderkurse wurden eingerichtet. Die Geflüchteten sollen ihre Schulpflicht hier erfüllen, sobald feststeht, dass sie dauerhaft im Land bleiben werden, heißt es, wobei die Organisation und Koordination des Unterrichts den Bundesländern obliegt.

"Mitschüler sind ausgleichend und vermittelnd"

Darauf, dass in der derzeitigen Lage Mobbing häufiger vorkommen und auch die Stimmung in der gesamten Klasse kippen könnte, habe man die Lehrkräfte am Schottengymnasium nun zusätzlich sensibilisiert, sagt Direktor Harold zur "Wiener Zeitung". Seine Beobachtung sei allerdings: Auch die Mitschüler seien ausnehmend offen für die aktuellen Veränderungen an der Schule und gehen auf die ukrainischen und russischen Kinder zu. "Sie versuchen ausgleichend und vermittelnd das Beste aus der Situation zu machen", sagt Harold, der vollstes Verständnis für die schwierige Situation der Flüchtlingskinder habe, wie er sagt.

Ähnliches berichtet Andreas Schatzl, Direktor des öffentlichen Gymnasiums Theresianische Akademie, an der ebenfalls Russisch unterrichtet wird und ukrainische Flüchtlingskinder mitunter mit Russen in einer Klasse sitzen. "Wir als Schule sind die Welt im Kleinen", sagt er und bringt die Situation damit auf den Punkt. Ja, es gebe Konflikte und Spannungen, sobald aber Mobbing bekannt werde, "fahren wir den für Mobbingfälle im Haus entwickelten Schirm hoch". Die betroffenen Schüler und Eltern würden dann eingeladen, die Problematik gemeinsam zu besprechen. Im Moment sei aber die Schülergemeinschaft noch stärker und das gegenseitige Verständnis gut.

Zuschauer und Mitläufer neben Opfern und Tätern

"Noch gibt es keine Zwischenfälle, doch wir sitzen da auf einem Pulverfass", meint auch Klaus Huber, Direktor des Bundesgymnasiums Stubenbastei, das ab der ersten Klasse die Möglichkeit anbietet, zwischen Englisch und Russisch als erste lebende Fremdsprache zu wählen. Die Lehrkräfte seien daher in den Klassen mit ukrainischen und russischen Schülerinnen und Schülern im Moment besonders hellhörig.

Doch wie geht man konkret vor, wenn Kinder gemobbt werden? Eines gleich vorweg: Es gebe nicht nur Opfer und Täter, sondern auch Zuschauer und Mitläufer, sagt Alexandra Fritz, die Psychologie studiert hat und nun Mobbingexpertin an Schulen ist. Opfern und Tätern sei meist gemein, dass sie ein geringes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein hätten - allein die Körperhaltung mit hängenden Schultern "macht Opfer zu Opfern", sagt Fritz. Zuschauer seien die, die alles mitbekommen, aber nicht einschreiten, und Mitläufer all jene, die - angestachelt durch die Täter - zusätzlich hinhacken, und sei es nur verbal.

Meist beginne es in der Pause, auf dem Schulhof oder am Gang. Das Opfer werde angepöbelt, zuerst leise und dann immer lauter, auch in der nächsten Pause und schließlich jeden Tag. Mobbing sei per Definition die wiederkehrende Aktion eines oder mehrerer Täter, die mit psychischer oder physischer Gewalt einhergehe und dauerhaft psychische Schäden beim Opfer hinterlasse, sagt Fritz. Weil es ohne Opfer aber auch keine Täter geben kann, rät Fritz den Opfern, die Täter zu ignorieren. "Der oder die Betroffene soll sich umdrehen und eine von der Situation abgekoppelte Handlung setzen - zum Beispiel ein Spiel mit anderen Mitschülern spielen oder lachen." Wird der oder werden die Mobber handgreiflich, sollte das Opfer lernen, laut und deutlich "Stopp" zu sagen und die Hand abwehrend auszustrecken, um dann schnellstmöglich die Flucht ergreifen zu können.

Nationale Strategie zur schulischen Gewaltprävention

Ganz wesentlich sei aber auch, Mobbing im Unterricht regelmäßig zu thematisieren - und dabei die Botschaft zu transportieren, dass das Melden einer Mobbingsituation durch Mitschüler an den Lehrer kein Petzen sei. "So fängt man die Zuschauer auf und zieht sie auf die Seite des Opfers", sagt Fritz. Hilfreich wäre auch, wenn ein gemobbter Schüler nur noch mit Freunden und Verbündeten auf den Schulhof geht. Die Herausforderung für die Lehrer sei dabei, die Hintergründe beider Seiten zu erkennen.

Österreichs Bildungsministerium verfolgt seit mehr als zehn Jahren eine nationale Strategie zur schulischen Gewaltprävention und hat 2018 einen Leitfaden für die Schulgemeinschaft im Umgang mit Mobbing ausgearbeitet. Schon damals hatten demnach je etwa ein Drittel der Schüler bei einer Umfrage angegeben, bei Mobbing gegen Mitschüler beteiligt oder selbst Opfer gewesen zu sein. Zu den Grundsätzen der Präventionsarbeit des Bildungsministeriums findet sich das Angebot zur Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer genauso wie die Partizipation aller Beteiligten. Vor allem aber sollen Pädagoginnen und Pädagogen Hinweise von Mitschülern, Kolleginnen und Eltern ernst nehmen, heißt es.

Innere Resilienz für Umgang mit Krisen aufbauen

Klassengemeinschaften, wie es sie momentan gibt, und in denen die Kinder zweier gegeneinander kriegsführender Länder aufeinanderprallen, sind freilich von Vornherein vorbelastet. "Kinder spiegeln eins zu eins die Haltung ihrer Eltern wider", sagt Fritz. Das Um und Auf wie in jeder Krisensituation sei daher, dass Kinder und Jugendliche eine innere Resilienz aufbauen. Eine psychische Widerstandskraft und mit dieser die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen - und durch sie zu lernen.