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"Das Bundesheer schaut aus wie ein Militär, ist aber keines"

Von Daniel Bischof

Politik

Die Ziele der Aufrüstung des Militärs werden öffentlich kaum diskutiert. Dabei liegen bereits zahlreiche Pläne dazu vor. Die Politik müsse in die Gänge kommen, mahnt Experte Gustenau.


Mit Zahlen wird längst jongliert. Eineinhalb Prozent des BIP sollen künftig jährlich in das Bundesheer investiert werden, forderten zuletzt Vertreter der ÖVP. Politisch einig ist man sich aber noch nicht.

Während nun um die konkreten Zahlen gefeilscht wird, geht in der Debatte unter, was mit der Aufrüstung bezweckt werden und welche Szenarien das Heer künftig bewältigen soll. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) blieb dazu bisher vage. Im "Presse"-Interview nannte sie als Beispiele für ihre konkreten Ziele, 100 Kasernen autark machen und in den Bereich Mobilität sowie die Ausrüstung der Soldaten investieren zu wollen. Es gebe im Ressort viele Konzepte, "wo sich das Bundesheer hinentwickeln" soll: "Wir haben ein Risikobild, bis 2030 wollen wir in der Lage sein, den Herausforderungen, die dort abgebildet sind, auch entsprechend begegnen zu können."

Tanner bezieht sich auf das Risikobild 2030, das auf 63 Seiten die Bedrohungen für Österreichs Sicherheit bis zum Jahr 2030 auflistet. Es bewertet dutzende von Risiken, die von Blackouts über Terroranschläge bis hin zu einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen reichen - die "Wiener Zeitung" berichtete. Gemeinsam mit anderen Berichten und Dokumenten gibt es Einblicke, was mit einer Aufrüstung aus Sicht des Bundesheeres bezweckt werden könnte.

Konventioneller Angriff unwahrscheinlich

Das Risikobild 2030 widmet sich unter anderem der Bedrohung eines konventionellen Angriffs auf Österreich durch einen anderen Staat. Der Eintritt dieses Risikos wird als gering bewertet, "gänzlich ausgeschlossen" könne das Szenario aber nicht werden. Eingeräumt wird, dass das Heer "mit den bisherigen finanziellen und personellen Ressourcen" nur zu einer ersten, nicht aber nachhaltigen Abwehr fähig wäre. "Die finale Abwehr inklusive der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität von konventionellen Angriffen ist, vor allem wenn es sich um einen übermächtigen Gegner handelt, nur durch das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft möglich."

Der Bericht ist mit 15. Jänner 2021 datiert, der Ukraine-Krieg ist darin also nicht berücksichtigt. Maßgeblich an der Erstellung des Berichts und anderer Strategiepapiere war Brigadier Gustav Gustenau beteiligt. Er ist mittlerweile pensioniert. An der Einschätzung dieses Risikos habe sich durch den Ukraine-Krieg nichts geändert, sagt er zur "Wiener Zeitung". Dass Russlands Streitkräfte Österreich auf konventionellem Weg angreifen, sei höchst unwahrscheinlich: "Das wäre nur bei einem Zerfall von EU und Nato denkbar." Auch Brigadier Philipp Eder, Leiter der Abteilung Militärstrategie, sieht dieses Risiko durch den Ukraine-Krieg nicht erhöht.

Im Zustandsbericht "Unser Heer 2030" von Ex-Verteidigungsminister Thomas Starlinger aus dem Jahr 2019 wird ebenfalls nicht mit einem konventionell angreifenden Gegner gerechnet. Damit das Militär eine Abwehroperation führen könne, bräuchte es eine langfristige Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP. Nötig wären vor allem eine höhere Anzahl an Truppen und Aufwendungen für eine Luftverteidigung.

Dieses Zwei-Prozent-Ziel wird in dem Bericht als budgetär unrealistisch eingeschätzt. Zugleich wird aber festgehalten, dass die Fähigkeit zu Abwehroperationen "im Kern" erhalten bleiben müsse: "Diese Fähigkeiten vollständig aufzugeben, wäre mit den Pflichten Österreichs als neutraler Staat nicht vereinbar." Das bedeute, dass das Heer gegenüber konventionellen Gegnern zumindest eine gewisse abschreckende Wirkung haben müsse, sagt Eder.

Maßstab der Schutzoperation

Wenn nicht die umfassende Abwehr eines konventionellen Angriffs das Ziel der Aufrüstung ist, was dann? Gustenau hat anhand des Risikobildes im Herbst 2020 ein Papier zu "verteidigungspolitischen Optionen" erarbeitet.

Darin finden sich Varianten, wohin sich das Bundesheer entwickeln könnte und welche Schritte dafür gesetzt werden müssen. Sie reichen von einer vollumfänglichen Landesverteidigung nach dem Vorbild der Schweiz bis hin zu einem "bewaffneten Zivilschutz", wie Gustenau es nennt - ein Bundesheer, das primär für Assistenzeinsätze zur Hilfe der Exekutive eingesetzt wird. Zwischen diesen Extremen finden sich Zwischenstufen, die ein mehr oder weniger starkes Leistungsspektrum des Heeres vorsehen.

Anhand dieser Optionen wurden im Generalstab sechs Profile für die Entwicklung der Streitkräfte ausgearbeitet. Tanner wählte im März 2021 das Profil "Unser Heer" aus. Das Bundesheer soll primär auf die Abwehr nicht-konventioneller und hybrider Angriffe irregulärer, aber auch regulärer Gegner im Rahmen einer Schutzoperation reagieren können. Weiters soll die Gemeinsame Europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gestärkt werden.

Die Schutzoperation wurde bereits in Starlingers Zustandsbericht als Entwicklungsziel genannt. Es handelt sich dabei um eine eigenständige Operation des Militärs und nicht um einen Assistenzeinsatz zur Unterstützung der Polizei. Beispiele sind koordinierte Terroranschläge, landesweite Angriffe eines Gegners auf kritische Infrastrukturen oder ein Einsatz zur Grenzsicherung wie während des Jugoslawien-Krieges.

"Relevanz dramatisch gestiegen"

Ein weiteres Szenario für eine Operation ist die "neutralitätswidrige Nutzung österreichischen Staatsgebietes", wie es im Risikobild heißt. Dabei geht es darum, dass Truppen einer Kriegspartei am Boden oder zu Luft Österreich durchqueren wollen, um rasch einen Kriegsschauplatz in anderen Teilen Europas zu erreichen.

Das dürfte das neutrale Österreich nicht zulassen, so Gustenau. Sollte es das dennoch tun, könnte eine andere Kriegspartei das als einen Verstoß gegen die Neutralität und feindlichen Akt werten und Sabotagehandlungen wie das Zerstören von Brücken setzen.

Solche Szenarien für Schutzoperationen seien durch den Ukraine-Krieg weit realistischer geworden, sagt Gustenau. "Die Relevanz von Schutzoperationen ist dramatisch gestiegen. Wir müssen das jetzt wirklich ernst nehmen." Denn der Krieg schlage sich auch auf zahlreiche andere Risiken durch, die im Risikobild geschildert werden. So etwa auf diverse hybride Bedrohungen wie Cyber-Angriffe oder den Einsatz von Migrationsströmen zur Destabilisierung Europas.

"Wie ein Auto ohne Getriebe"

Um eine Schutzoperation zu bewältigen, müsse das Bundesheer die Fähigkeit haben, "alle militärischen Kapazitäten sowohl sehr rasch, räumlich und zeitlich begrenzt, als auch lange andauernd" einzusetzen, heißt es im Zustandsbericht. Es müsse "Präsenz zeigen und durch diese abhaltend wirken". "Patrouillen mit gepanzerten Fahrzeugen überwachen das Zwischengelände und können rasch an entstehenden Brennpunkten zusammengeführt werden, um Gefahrensituationen zu neutralisieren. Verdächtige Personen werden kontrolliert, Gefahrenräume großflächig abgesperrt. Nachtkampffähigkeit ermöglicht den Einsatz rund um die Uhr." Ziel seien die "Erhaltung und gegebenenfalls Wiederherstellung der Souveränität am Boden, in der Luft und im Cyberspace".

Für Gustenau können diese Ziele derzeit bei Weitem nicht erreicht werden. Eine Schutzoperation erfordere, dass das Bundesheer ausreichend mit allen notwendigen Waffengattungen ausgestattet sei. Das sei derzeit aber nicht der Fall. "Das Bundesheer schaut aus wie ein Militär, ist aber kein Militär. Es ist wie ein Auto, bei dem das Getriebe fehlt", so sein Befund. Interne Planungen würden zeigen, dass diverse Szenarien mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht ausreichend bewältigt werden könnten.

Nachgerüstet werden müsse das Bundesheer auf zahlreichen Ebenen, sagt Brigadier Eder: Etwa bei der Drohnenabwehr und Drohnenaufklärung, der bodengebundenen Luftabwehr, der Cyber-Verteidigung, der Ausrüstung von Soldaten, schweren Waffen und der aktiven Luftraumüberwachung mit Kampfflugzeugen. Allerdings werde derzeit "zu rüstungslastig gedacht", bemerkt Eder. Eine Nachrüstung würde auch deutlich mehr Übungen für die Miliz erfordern, um diese wieder schlagkräftig zu machen.

Breite politische Debatte fehlt

Als Richtschnur für die Bewältigung von Schutzoperationen wird in den Strategiepapieren ein Budget von mindestens einem Prozent des BIP für das Heer genannt. Zusätzlich erforderlich wären aber auch einmalige Sonderinvestitionen in Milliardenhöhe.

Bevor über die Zahlen und genauen Investitionen gesprochen werde, müsste in einem ersten Schritt politisch breit über all die strategischen Fragen, die Ausrichtung des Heeres, Szenarien und Pläne diskutiert werden, so Gustenau. Das passiere aber nicht. Selbst jetzt seien die Politik und Parteien völlig mit sich selbst beschäftigt. Debatten über die Zielsetzungen des Militärs, die Neutralität und die transatlantischen Beziehungen würden hierzulande überhaupt nicht stattfinden.