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"Arbeitslosigkeit ist kein Anreizproblem"

Von Martina Madner

Politik
Für die Politologin Barbara Prainsack ist die Ursache für Arbeitslosigkeit nicht ein Mangel an Motivation, weshalb sie in Geldanreizen oder weniger Geld keine Lösungen sieht.
© Gregor Hofstätter

Barbara Prainsack erläutert, warum weniger Arbeitslosengeld nur Konzernen mit unfairen Arbeitsbedingungen hilft. Statt für Kürzungen plädiert die Politikwissenschafterin für ein bedingungsloses Grundeinkommen.


In der kommenden Woche können gleich zwei Volksbegehren zu sozialen Themen unterzeichnet werden. Eines fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen, das zweite: "Arbeitslosengeld rauf!" Beide benötigen jeweils zumindest 100.000 Wahlberechtigte, die es online per Handysignatur oder in den Eintragungslokalen zeichnen, damit sich das Parlament mit den Forderungen befassen muss. Beim Grundeinkommen, das bereits 98.576 unterstützen, ist das sehr wahrscheinlich, für ein höheres Arbeitslosengeld mit 24.602 müssten sich kommende Woche noch viele zusätzlich einsetzen. Politikwissenschafterin Barbara Prainsack setzt sich für beide Anliegen ein.

"Wiener Zeitung": Warum unterstützen Sie die Volksbegehren "Arbeitslosengeld rauf" und "Bedingungsloses Grundeinkommen umsetzen"?

Barbara Prainsack: Eine reiche Gesellschaft wie unsere hat eine moralische Verpflichtung dazu, allen Menschen im Land ein ausreichendes Einkommen für ein würdevolles Leben zu garantieren. Auf die Frage, wie viel ist genug, lautet die kurze Antwort, dass das Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle liegen soll, also 1.200 bis 1.300 Euro pro Monat für Erwachsene. Mein präferierter Weg wäre zwar ein bedingungsloses Grundeinkommen, es gibt aber auch andere. Ein höheres Arbeitslosengeld ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Auch dass man die Position erwerbsarbeitsloser Menschen stärkt, ist wichtig. Die Pandemie hat wieder einmal gezeigt, dass Menschen, die keine Erwerbsarbeit haben, nicht faul sind, sondern dass es schnell passieren kann, dass man in die Erwerbsarbeitslosigkeit rutscht. Menschen ohne Erwerbsarbeit haben natürlich dasselbe Recht auf ein würdevolles Leben wie alle anderen.

Die ÖVP argumentiert damit, dass Österreich ohnehin ein hohes Arbeitslosengeld habe und damit der Anreiz fehle, wieder einen Job aufzunehmen. Warum sehen Sie das anders?

Erstens liegt Österreich bei der Höhe des Arbeitslosengeldes im OECD-Vergleich nur im hinteren Mittelfeld. Zweitens hat Arbeitslosigkeit mit vielen Faktoren zu tun, in den meisten Fällen aber nicht damit, dass es einem mit dem Arbeitslosengeld zu gut geht. In den USA gab es ein natürliches Experiment: Manche Bundessstaaten haben mit Corona-Hilfszahlungen früher aufgehört als andere. Konservative Kräfte meinten, dass Menschen dann früher an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würden und sich damit auch der Arbeitskräftemangel beseitigen lässt. Genau das ist aber nicht passiert. Das war kein Anreiz. Kaum jemand kam früher in die Erwerbsarbeit zurück als in den Bundesstaaten, die sie mit Hilfen länger unterstützten. Bei Langzeitarbeitslosigkeit sind Krankheiten oder besondere Belastungen oft Ursachen. Auch das kann man nicht mit einem Anreiz lösen, das müsste man an der Wurzel anpacken. Es gibt auch Arbeitsplätze, die frei bleiben, weil sie Menschen nur dann annehmen, wenn es um das absolute Überleben geht. Die Ursache, warum sich dafür niemand findet, ist nicht das zu hohe Arbeitslosengeld, sondern dass diese Jobs krank machen und finanziell unattraktiv sind.

Naiv gefragt: Warum gibt es trotz 120.000 offener Stellen trotzdem 100.000 Langzeitbeschäftigungslose?

Diese Rechnung ignoriert das Ungleichgewicht zwischen dem Angebot an Arbeitsplätzen und den Menschen, die diese Jobs machen können. Das geht es um andere Fragen: Sind sie überhaupt im selben Bundesland? Gibt es Angebote für jene mit Betreuungspflichten? Fehlen den Leuten Fähigkeiten dafür? Oder will sie niemand, weil sie extrem schlecht und unfair bezahlt sind? Manche Ungleichgewichte muss man auf der Nachfrageseite lösen. Wo den Leuten Fähigkeiten fehlen, muss man sie entsprechend ausbilden. Anderes ist strukturell zu lösen.

Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) will mit einem degressiven, also zunehmend sinkenden Arbeitslosengeld Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Wie sehen Sie das?

Das kann es nicht, weil die Ursache in den meisten Fällen eben kein Anreizproblem ist. Das ist ein Denkfehler, wobei der auch von bestimmten Interessensgruppen strategisch eingesetzt wird. Wie man ein Problem formuliert, legt auch bestimmte Antworten nahe. Sehe ich Arbeitslosigkeit als Motivationsproblem, dann werden Geldanreize oder weniger Geld meine Lösung sein. Sehe ich aber in normierten Erwartungshaltungen, die Menschen nicht erfüllen können, weil sie nicht gesund oder flexibel genug sind, das Problem, dann muss ich mir als Unternehmen und als Staat, der dabei unterstützen muss, die Frage stellen, wie kann ich Erwerbsarbeit so an Menschen anpassen, damit alle mit sinnvollen Tätigkeiten ihr Auskommen finden.

Am Arbeitsmarkt gelten Frauen ab 45 als alt, Männer ab 50. Über 55 sinken die Vermittlungschancen extrem. Sollte man das Arbeitslosengeld nicht unterschiedlicher gestalten oder sorgt das für noch mehr Diskriminierung?

Das ist eine sehr, sehr gute Frage. Idealerweise erhielten alle ein bedingungsloses Grundeinkommen und darüber hinaus geht man in die Erwerbsarbeit. Das AMS vermittelt weiterhin und unterstützt gezielt nach Lebensphasen. Denn die Phase, in der sich ein Mensch befindet, etwa nach einer längeren Betreuungsauszeit, ist oft viel wichtiger als das biologische Alter. Ein Grundeinkommen hätte auch den Vorteil, dass es weniger stigmatisiert. Es wird nicht mehr in Leistungserbringende und Leistungserhaltende unterschieden. De facto haben manche ja ein bedingungsloses Grundeinkommen, und zwar jene, die von Kapitalvermögen leben können. Jene, die aber unter Anführungszeichen nur von Sozialleistungen leben, werden als Versager oder Schmarotzer diffamiert.

Arbeitsminister Kocher meinte, wir haben ein Grundeinkommen in Österreich mit Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung und Sozialhilfe. Was ändert sich damit?

Der prinzipielle Unterschied ist eben, dass das alles nicht bedingungslos ist. Ein bedingungsloses Grundeinkommen hat vier Eigenschaften: Es ist universell, alle, die in dem Land leben, erhalten es. Es muss wirklich bedingungslos sein, man verliert den Anspruch also nicht, wenn man nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht oder über einer bestimmten Grenze verdient. Es muss ein individueller und kein Haushaltsanspruch sein, das ist auch das Emanzipatorische daran, damit sich Menschen aus Abhängigkeiten lösen können. Und es muss existenzsichernd sein.

Existenzsichernd ist aber nicht überall das Gleiche.

Die rund 1.000 Euro im Jahr, die in Alaska an jede Person dort von den Öl-Einnahmen ausbezahlt werden, sind es sicher nicht. In Ländern, die eine gute öffentliche Infrastruktur haben, brauche ich natürlich weniger Cash auf die Hand. Wenn ich aber meine Krankenversicherung selbst bezahlen muss, die Schulbildung meiner Kinder, zwei Autos brauche, um mobil zu sein, brauche ich mehr Geld als in einer Stadt wie Wien, wo sehr viele meiner Bedürfnisse durch eine gute Grundversorgung bereits gedeckt sind. Deshalb sind 1.200 bis 1.300 Euro ein guter Wert für Erwachsene. Kinder erhalten die halbe Summe.

Bei 7,4 Millionen Erwachsenen wären das mehr als 100 Milliarden Euro jährlich. Zum Vergleich: Österreichs Budget liegt bei 160 Milliarden Euro. Auf was müssten wir dann verzichten?

Das brauche ich aber nicht zusätzlich zur Finanzierung, weil man sich einiges erspart und anderes durch mehr Steuern einnimmt. Man würde sich die Ausgleichszulage ersparen, die Familienbeihilfe. Mittelfristig würde auch das Pensionssystem umgestellt werden. In manchen Modellen gibt es weiter eine Arbeitslosen- und Pensionsversicherung, damit ich mir meinen Lebensstandard erhöhen kann als Aufstockung zum Fundament. Auch im Gesundheitsbereich sind Einsparungen zu erwarten, weil die Menschen gesünder werden. Alle Experimente bisher haben gezeigt, dass sich die Leute weniger gestresst und gedemütigt fühlen. Demütigung und soziale Isolation führen zu psychischen und körperlichen Erkrankungen, die auch Geld kosten. Dazu kommen mehr Steuereinnahmen. Es gibt zwei Modelle, die für Österreich durchgerechnet wurden. Das Modell der ‚Generation Grundeinkommen‘ würde alle Abgaben auf Arbeit abschaffen, aber Konsumsteuern und vermögensbezogene Steuern, die es in Österreich kaum gibt, stark erhöhen. Und beim Linzer Modell gibt es weiterhin Einkommenssteuern, zusätzlich aber ebenfalls Vermögenssteuern. In beiden Modellen nimmt man also mehr ein, aber in einer Art, die von oben nach unten umverteilt.

Wer will dann trotz Grundeinkommen an der Supermarktkasse sitzen oder in der Pflege arbeiten?

Das ist Teil der Propaganda der Interessensvertreter von Großkonzernen. Es gibt weltweit keine Studie, die zeigt, dass Menschen, die bedingungslose Geldzahlungen erhalten, ihre Erwerbsarbeit aufgeben. Auch hypothetische Umfragen aus Deutschland zeigen, dass zwar 20 Prozent glauben, dass andere ihre Arbeit aufgeben, aber nur vier Prozent sagen, sie selbst würden das tun. Eine Studie aus Kanada zeigt, dass nur Frauen unmittelbar nach der Geburt und jüngere Männer, die länger in der Ausbildung bleiben, etwas weniger Zeit für Erwerbsarbeit verwenden. Die Leute sind nicht alle faul.

Es gibt aber jetzt schon einen Fachkräftemangel. Wie finden betroffene Branchen dann ihr Personal?

Dieses Problem muss man mit besseren Arbeitsbedingungen und Aus- und Weiterbildung lösen. Das Grundeinkommen kann übrigens auch für kleinere und mittlere Unternehmen einen Vorteil haben. Als Unternehmer hat man eine Basis und Arbeitnehmer können in schwierigen Phasen flexibler arbeiten, weil sie ebenfalls eine Existenzsicherung haben. Wer nicht von einem Grundeinkommen profitieren würde, sind Großkonzerne wie Amazon, die von Ausbeutung leben, weil sich niemand mehr ausbeuten lassen müsste.

Barbara Prainsack ist Leiterin des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medizin- und Technologiepolitik. Im Herbst 2020 erschien ihr Buch "Vom Wert des Menschen: Warum wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen" im Brandstätter-Verlag.