Auf das erste Hurra folgt Ernüchterung angesichts der von der Regierung präsentierten Pläne für die Pflege. Denn diese sind mehr Personaloffensive als Reform bestehender Strukturen. Der Großteil der Milliarde Euro, die heuer und 2023 zusätzlich in die Pflege fließen soll, ist für Bemühungen, zu zusätzlichem Personal zu kommen, reserviert. Mit dem Löwenanteil von 520 Millionen Euro Bundeszuschlag als zusätzliches Gehalt will die Regierung den knapp 130.000 Personen, die bereits heute in der Pflege beschäftigt sind, das Weiterarbeiten im Beruf schmackhaft machen.
Geringere Hürden für eine Rot-Weiß-Rot-Karte sollen künftig mehr Pflegekräfte aus dem Ausland anlocken. Mit einer Pflegelehre, einer Ausbildungsoffensive und Bezahlung währenddessen - 600 Euro monatlich für Erstauszubildende, 1400 Euro für Umschulende - sollen aber auch zusätzlich Menschen, die bereits in Österreich leben, für den "wunderbaren Beruf" (O-Ton Sozialminister Johannes Rauch) begeistert werden. Dazu gibt es kleinere Kompetenzerweiterungen für manche Pflegeberufe. Das soll verhindern, dass 2030 75.700 Pflegepersonen fehlen.
Angesichts eines solch enormen zusätzliche Bedarfs beurteilt Arbeiterkammerpräsidentin Renate Anderl die Bemühungen der Regierung, für zusätzliches Personal zu sorgen, vorsichtig: "Es geht in die richtige Richtung, am Ziel sind wir damit aber noch lange nicht." ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian kommentiert gewohnt kantiger ."Die Pflege ist ein Intensivpatient, dem heute von der Bundesregierung die Verlegung auf die Normalstation in Aussicht gestellt wurde. Jetzt geht es darum, mit vereinten Kräften dafür zu sorgen, dass dieser Genesungsprozess gelingt".
Anderen fehlt Grundsätzlichesin der Reform: ganzheitliche Überlegungen zur Qualität der Langzeitpflege, eine Struktur- und Personalplanung, die sich daraus ergibt und eine nachhaltige Finanzierung im Föderalismus.
Gehobene Pflege vernachlässigt
Konkret stammt der zusätzliche Bedarf aus der Bedarfsprognose der Gesundheit Österreich. Demnach wären 2030 161.100 Pflegepersonen nötig, um die Akut- und Langzeitpflege in Österreich zu bewältigen. Weil bis dahin 41.500 in Pension gehen, der Bedarf mit einer alternden Bevölkerung wächst und es auch Veränderungen in der Pflege gibt, deshalb auch den Berufsgruppen stattfinden, braucht es in nicht einmal acht Jahren 75.700 Pflegepersonen zusätzlich. Rund 19.100 zusätzlich sind im gehobenen Dienst, also mit Diplom oder Bachelorstudienabschluss, gefragt. Für 2030 berechnet werden auch 22.800 in der Pflegefachassistenz, 8.400 in der Pflegeassistenz, 14.700 mit Sozialbetreuungsberufssausbildung und 10.700 Heimhilfen.
Mit mehr als 70.000 sind 2030 fast die Hälfte mit einer Ausbildung im gehobenen Dienst gefragt. Elisabeth Potzmann, Präsidentin des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands, fehlt deshalb im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" ein "klares Bekenntnis zur Professionalisierung der Pflege".
Potzmann kritisiert, dass sowohl die Pflegefachassistenz, also auch die Pflegeassistenz mit neuen Kompetenzen ausgestattet werden. Diese dürfen laut Regierungsplänen künftig Infusionen an- und abschließen und Zugänge entfernen, müssen dafür nicht mehr einen Arzt oder eine Ärztin für eine Anweisung zurate ziehen. "In Wirklichkeit verkauft man uns hier eine Entlastung der Ärzte als Aufwertung des Pflegeberufs", sagt die Expertin. "Wenn man den Beruf wirklich hätte aufwerten wollen, hätte man Kompetenzen der Medizin hin zum gehobenen Dienst verschoben."
Hilfsmittel, die man für professionelle Pflege verwendet, also zum Beispiel Inkontinenzeinlagen für die Betten von Pflegebedürftigen, müssen im Moment von einem Arzt oder einer Ärztin verordnet werden. Selbst Nachbestellen kann die diplomierte Pflegekraft nicht alleine. "Für jedes Pflaster, dass wir kleben müssen, brauchen wir eine Anweisung eines Arztes. Wir werden da am Gängelband des Systems bewusst klein gehalten", ärgert sich Potzmann über dieses Versäumnis.
Tendenz zum Downgrading statt zur Qualität
Auch bei der Personalbemessung sieht die Expertin Versäumnisse. In der Quantität: "In einem Bundesland arbeitet die Pflege auf einer Station zu viert bei 30 Patienten, über die Bundesländer-Grenze hinweg sind es sechs. Das kann eigentlich nicht sein, ist aber so", sagt Potzmann. Bei manchen Pflegeheimträgern arbeite ein Nachdienst alleine, bei anderen wenigsten zwei Personen.
Kai Leichsenring, der sich beim "European Centre for Social Welfare Policy and Research" wissenschaftlich mit Pflege auseinandersetzt, weist auf die unterschiedlichen Vorgaben in den Bundesländern hin. Während es im Burgenland Mindestvorgaben für Personal basierend auf Pflegeminuten gibt, bauen die Systeme in Wien, Oberösterreich und die Steiermark auf den Pflegestufen auf. In Salzburg oder Tirol gibt es keine gesetzlich verankerten Personalschlüssel. um nur einige Beispiele aus einer Studie zu den gesetzlichen Grundlagen für Pflegeheime für die AK Oberösterreich zu nennen. "Allerdings können schon jetzt tausende Heimplätze mangels Personal nicht belegt werden", gibt Leichsenring zu bedenken. Und er sieht in der "Tendenz zum Downgrading, also teures Personal zu vermeiden" das größere Problem.
Man müsse dem Personalmangel nicht nur durch neue Köpfe begegnen, sondern auch den Skills- und Grademix neu denken, sagt Potzmann: "Also wer mit welchen Fähigkeiten und Ausbildungsgrad innerhalb der Teams was macht. Wenn diplomiertes Pflegepersonal, in einem Heim um fünf Uhr Butterbrote schmiert, was auch eine Heimhilfe machen kann, ist es ineffizient eingesetzt zum Beispiel."
Für Martin Nagl-Cupal, Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft, ist das zusätzliche Geld zwar "ein sehr deutliches Signal", wie er in ORF-Interviews sagt. Aber auch er vermisst Angebote, die die gehobene Pflege attraktiver machen. Seine Vermutung, warum man darauf verzichtet, ist: "Für das System ist es wesentlich günstiger, auf Assistenzberufe zu setzen als auf den gehobenen Dienst. In Summe ist das nicht der beste Schritt, weil Investitionen in die Qualität jedenfalls sinnvoll und rentabel sind."
Nagl-Cupal spricht von der Möglichkeit zur Spezialisierungen der gehobenen Pflege, wie etwa Dialyse oder Wundmanagement, die seit der Novelle des Gesundheits-und Krankenpflegegesetzes 2016 auf dem Tisch lägen: "Passiert ist da aber noch sehr wenig."
Auf manche Berufe werde überhaupt vergessen. Leichsenring erinnert auch an die Fachsozialbetreuung: "Ein wunderbares Berufsbild, in dem zwar seit 15 Jahren ausgebildet wird, das aber trotzdem noch kaum zum Einsatz kommt. Dabei hätten sie für die Langzeitpflege eindeutig den besseren Skillsmix als etwa die Pflegeassistenz. Denn dabei geht es weniger um Akutversorgung in Spitälern als darum, Lebensqualität im Alttag im Alter herzustellen."
Stiefkinder mobile Pflege
und 24-Stundenbetreuung
Für eine echte Reform müsse man aber "eigentlich beim Pflegebedarf ansetzen und erst dann der Frage nachgehen, wie man ihn decken und letztlich auch bezahlen kann", sagt Leichsenring. Mit dem Abschaffen des Pflegeregresses für Heimplätze gibt eine Schieflage: "Im mobilen Bereich ist da nichts passiert." Die minutengenaue Abrechnung von Leistungen sei genauso ein Problem für die Pflegekräfte wie Pflegepersonen.
Wie die 24-Stunden-Betreuung ins System inkludiert wird, müssen die Sozialpartner erst bis zum Herbst ausverhandeln. Die Qualität in diesem Bereich wird im Moment einmal pro Jahr überprüft. "Per angekündigtem Hausbesuch", sagt Leichsenring. Dass da bei 98 Prozent alles wunderbar läuft, sei wenig verwunderlich. Eine Initiative aus der Praxis rund um Hilfswerk Österreich-Geschäftsführerin Elisabeth Anselm forderte eine Qualitätsoffensive mit regelmäßigen Qualitätskontrollen und mehr Geld dafür. In Summe würde das zusätzlich 220 Millionen Euro kosten - zusätzlich zur Förderung von 550 Euro pro Betreuungskraft, was insgesamt 160 Millionen Euro pro Jahr ausmacht.