Die Bitten und Aufforderungen diverser Parteigrößen auf dem 40. Parteitag der ÖVP, Karl Nehammer in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen, haben gefruchtet. Der Bundeskanzler wurde mit 100 Prozent zum Obmann der Volkspartei gewählt. 524 Delegierte gaben am Samstag in der Helmut-List-Halle in Graz ihre Stimmen ab - und 524 stimmten dabei für ihn. Das hat nicht einmal Sebastian Kurz geschafft (er erreichte vorigen August in St. Pölten 99,4 Prozent). Und das bemerkenswerte dabei: Nehammer stand gar nicht so sehr im Mittelpunkt, sondern: die Volkspartei. Nach den Kurz-Jahren scheint sich die ÖVP nun neu zu positionieren.

Hätte die ÖVP ihren Obmann per Dezibelpegel gewählt, wäre aber fast ein Unglück passiert und Wolfgang Schüssel jetzt wieder Parteichef. Denn der Altkanzler war Kurz bei seiner Abschiedsvorstellung vor den Delegierten zur Seite gestellt worden. Statt einer Rede der türkisen Lichtgestalt, die vielleicht zu viel Schatten auf seinen Nachfolger werfen könnte, war nur ein Interview auf der Bühne geplant, und zwar gleich mit zwei ehemaligen Obleuten. Sicherheitshalber. Aber statt des Interviews gab's dann eine kämpferische Rede Schüssels zur Volkspartei: "Wir brauchen uns vor niemandem zu fürchten!" Jubel. Kurz wirkte danach fast farblos, politikfern und irgendwie deplatziert nach dieser kurzen, aber politischen Brandrede seines Vorgängers.

Auch Ex-Kanzler Sebastian Kurz tritt in Graz auf. 
- © reuters / Lisa Leutner

Auch Ex-Kanzler Sebastian Kurz tritt in Graz auf.

- © reuters / Lisa Leutner

Wie sich die Dinge ändern

Es illustrierte, wie schnell sich die Dinge in der Politik ändern können. Unter Kurz hatte sich die Volkspartei ihrem Obmann verschrieben, in der Realität zwar nicht ganz so gänzlich, wie teilweise dargestellt, aber doch weit mehr als bei den Vorgängern, auch unter Schüssel. Das gipfelte in einen Parteitag im August des Vorjahres, der unter dem Motto "Wir für Kurz" stand, weil "alle gegen ihn" seien. Doch der Verteidigungswall der Funktionäre hielt bekanntlich nicht sehr lange, nur bis Oktober, da trat Kurz als Kanzler zurück.

Das warf unweigerlich eine Identitätsfrage auf. Was kommt danach? Wie kann sich eine Partei, die sich derart auf eine Person fokussiert hat, neu aufstellen. Die personelle Frage wurde, auf zwei Etappen, rasch beantwortet, aber das war die leichte Übung. Der 40. Parteitag in Graz bot einen Einblick auf das neue, jedenfalls inszenierte Selbstverständnis unter Nehammer. Und es ist doch eine Kehrtwende. Statt des prononcierten Ich unter Kurz nun ein demonstratives Wir, schon gleich zu Beginn in einem Video ("Wir sind Kanzler. Wir sind Regierungspartei. Wir sind die Volkspartei"), mehrmals vom Moderator, danach in jeder Wortmeldung, und diese Frage bildete auch das Ende der Rede Nehammers: "Wer wir sind?", fragte der Kanzler. "Wir sind die Volkspartei, wir sind die ersten Diener dieses Landes."

Aus dieser Inszenierung war auch ein klarer Auftrag an den neuen Obmann herauszulesen: Die Volkspartei gehört in die Verantwortung, gehört in die Regierung. Wie seit 1986 schon. Und auch wenn die ÖVP derzeit den Kanzler stellt, ist das Mitregieren erstmals seit Jahrzehnten infrage gestellt, zumindest ließen Umfragen zuletzt auch eine Mehrheit abseits der ÖVP realistisch scheinen.

Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel ließ sich auch feiern. 
- © reuters / Lisa Leutner

Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel ließ sich auch feiern.

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Defensive Rede Nehammers

Die angekündigte halbstündige programmatische Rede Nehammers erfüllte dann aber in zweierlei Hinsicht nicht die Erwartungen. Erstens überschritt der Kanzler die Zeitangabe gleich um das Doppelte und sprach eine Stunde. Zweitens war es eher eine Regierungserklärung, in der Nehammer auch auf so gut wie jeden Vorwurf der Opposition der vergangenen Jahre einging, manchmal explizit, manchmal nur mit einem Halbsatz. Zukunftsweisende Ansagen und programmatische Ankündigungen fehlten aber so gut wie völlig, sieht man von einem "Transformationsfonds" ab, mit Milliarden befüllt, um aus der fossilen Energie auszusteigen. "Verwaltung vereinfachen" kam auch, aber das war es schon. Nehammers Rede war insgesamt bemerkenswert defensiv und technokratisch.

Es ist aber scheinbar das, was die Volkspartei nach den Kurz-Jahren offenbar will. Zumindest sind 100 Prozent Zustimmung ein ganz gutes Argument für Nehammer.  Und in Zeiten der Krise ist Technokratie bei einem Kanzler vielleicht auch nicht ganz verkehrt. Zur Begrüßung der Delegierten hatte Hausherr Hermann Schützenhöfer, der steirische Landeshauptmann, auch gesagt, dass die ÖVP nun in der "Realität" angekommen sei. War das auf Kurz gemünzt, den Illusionisten?

Sowohl Nehammer als auch davor Klubchef August Wöginger hatten sich bemüht, die Erfolge des Wirkens der Volkspartei in der Regierung hervorzustreichen. Und in der Kommunikation der Regierungstaten ortet die ÖVP auch offenkundig den Hebel für zukünftige Wahlauseinandersetzungen. Das Motto: Tue Gutes und rede sehr oft darüber. Das war nicht nur Auftrag an Nehammer, sondern auch an die Delegierten, die Bürgermeister, die Gemeinderäte, die kleinen Funktionäre. Sie müssen, in der neuen alten Volkspartei, die Kommunikation nach außen übernehmen. Bis zum Vorjahr waren dafür nur Kurz und sein Team zuständig.