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"Behandeln war nie Kernaufgabe der Justiz"

Von Vilja Schiretz

Politik

Die Reform des Maßnahmenvollzuges lässt weiter auf sich warten. Das System steht seit Jahren in der Kritik.


Beim österreichischen Maßnahmenvollzug gibt es Reformbedarf. Die Anstalten sind überfüllt, die psychisch kranken Häftlinge werden immer mehr, eine qualitätsvolle Therapie ist kaum möglich. Betroffene und Aktivisten kritisieren die oft langen Haftzeiten, denn anders als eine Haftstrafe ist Maßnahmenvollzug zeitlich nicht begrenzt. Entlassen wird, wer in Gutachten für nicht mehr gefährlich befunden wird. Zweimal wurde Österreich wegen seines Maßnahmenvollzuges vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits verurteilt.

Immer wieder gab es Anläufe für Reformen, mit dem Ziel, den Maßnahmenvollzug, also das "Wegsperren" psychisch kranker Straftäter, zeitgemäß zu gestalten. Zuletzt verlief der Versuch einer Reform aus dem Jahr 2017 im Sand, trotz Lob von Experten. Nun versucht sich auch die türkis-grüne Regierung an einer Modernisierung der "Maßnahme". Das erste von zwei geplanten Paketen ging vor rund einem Jahr in Begutachtung. Der Beschluss lässt allerdings weiter auf sich warten. Das Gesetz werde derzeit "finalisiert", hieß es in einer Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage durch Justizministerin Alma Zadic (Grüne).

Justizministerium plant Reform in zwei Teilen

Der erste Teil der Reform soll ändern, wer überhaupt im Maßnahmenvollzug landet. Bisher konnte in eine Anstalt eingewiesen werden, wer ein Delikt begangen hatte, das mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Diese Schwelle soll nun auf drei Jahre angehoben werden, Ausnahmen sind bei "besonderer Gefährlichkeit" vorgesehen.

Mit einem zweiten Reformpaket sollen etwa zusätzliche Therapieplätze geschaffen werden. Auch dafür fehlt noch ein Zeitrahmen. Laut der Anfragebeantwortung wurden mit dem Ministerratsvortrag am 25. Mai 2021 die "Kernpunkte festgesetzt".

Für Adelheid Kastner, Psychiaterin und Chefärztin der forensischen Psychiatrie des Kepler Uniklinikums Linz, schießen die geplanten Pakete am Ziel vorbei. "Wenn die Leute schnell aus dem Maßnahmenvollzug rauskommen sollen, müssen wir sie effizient behandeln", sagt Kastner. Und genau daran scheitere es in manchen Anstalten.

Nach §21 Absatz 1 Strafgesetzbuch werden Straftäter, die als nicht zurechnungsfähig befunden wurden, anstelle einer Haftstrafe in eine Anstalt eingewiesen, in der ihre psychische Erkrankung behandelt werden soll. § 21 Absatz 2 hingegen betrifft Personen, die zum Tatzeitpunkt zwar zurechnungsfähig waren, aber dennoch unter dem Einfluss einer psychischen Krankheit gehandelt haben. Bei ihnen kann der Maßnahmenvollzug zusätzlich zu einer Haftstrafe verhängt werden.

Zwei völlig unterschiedliche Personengruppen also, zwischen denen weder die aktuelle Regelung noch die geplante Reform ausreichend differenzieren, bemängelt Kastner. "Die einen sind Kranke, die anderen gefährliche Häftlinge", so die Psychiaterin. "Beide zusammen in einen Paragrafen zu packen, war von Anfang an ein Fehler".

Die "21.1er" seien schwer psychisch krank und benötigen eine intensive medizinische Behandlung durch Fachärzte, die in den Anstalten aufgrund von fehlendem Personal oft nicht immer gewährleistet sei. Denn Psychiater die bereit wären, in einer Justizanstalt zu arbeiten seien Mangelware. Kastner würde diese Menschen lieber in Spitälern versorgt sehen als in Haftanstalten. "Für Krankheiten sind Ärzte zuständig. Medizinische Behandlung war noch nie die Kernaufgabe der Justiz".

Das Gesundheitssystem könnte diese einigen hundert zusätzlichen Patienten stemmen, ist Kastner überzeugt, zumal hier der Mangel an Psychiatern weniger dramatisch sei als in den Justizanstalten. Die dort mit dem zweiten Reformpaket zusätzlich geplanten Plätze würden das Problem bei gleichbleibendem Personalmangel noch verschärfen, befürchtet Kastner. "Ich frage mich, warum sich nie jemand für die Qualität der Behandlung in manch einer solchen Anstalt interessiert."

Die Bedürfnisse der zweiten Gruppe, den zurechnungsfähigen Straftätern, seien völlig andere. Hier gehe es um Haft mit einer zusätzlichen Betreuung durch Psychologen und Psychotherapeuten, Fachärzte würden kaum benötigt. Diese Art der Versorgung könne viel leichter in Haftanstalten geleistet werden.

Doch der begutachtete Entwurf differenziere nicht zwischen den beiden Gruppen, kritisiert Kastner. Während die Erhöhung der Schwellen für eine Einweisung bei den zurechnungsfähigen Häftlingen vertretbar sei - schließlich sei eine Haftstrafe mit anschließendem Maßnahmenvollzug eine "massive Sanktion" - hält Kastner die Lockerungen bei zurechnungsunfähigen Patienten für gefährlich.

Wer schwer psychisch krank ist und dadurch zu Gewalt neigt, müsse möglichst rasch behandelt werden. Drohungen und versuchte Straftaten seien deutliche Warnsignale, man dürfe nicht zuwarten, bis es tatsächlich zur Umsetzung kommt. "Wenn Ihnen jemand Zurechnungsunfähiges mit einem Messer nachrennt und Sie rennen zufällig schneller", sei das kein Grund, von einer Einweisung abzusehen, so Kastner. Auch die geplante Möglichkeit, jemanden aufgrund "besonderer Gefährlichkeit" nach einer weniger schwerwiegenden Straftat einzuweisen ändere daran nichts wesentlich. Gefährlichkeit sei ohnehin Voraussetzung für den Maßnahmenvollzug.

Verhandlungen mit Koalitionspartner laufen

Kastner ist nicht die einzige Kritikerin der in Aussicht gestellten Reformpakete. Während der Begutachtungsfrist gingen einige duzend Stellungnahmen ein, die "umfangreich und teilweise auch widersprüchlich zueinander waren", heißt es aus dem Ministerium. Aufgrund der "Komplexität der Materie" habe sich der Gesetzgebungsprozess verzögert. Mittlerweile sei die Einarbeitung der Stellungnahmen abgeschlossen, über den neuen Entwurf werde nun mit dem Koalitionspartner verhandelt.

Wo die Stellungnahmen zu Änderungen geführt haben, lässt das Ministerium auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" offen, man möchte den Verhandlungen nicht vorgreifen. Ebenso wenig möchte man sich festlegen, bis wann der endgültige Entwurf stehen soll. Damit bleibt beim Sorgenkind Maßnahmenvollzug vorerst alles beim Alten.