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Warum Flüchtlingskinder verschwinden

Von Petra Tempfer

Politik

Immer mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind nicht mehr auffindbar.


Rund 600 waren es 2019, im Jahr darauf 764 und 2021 schon 4.489 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die nach dem Stellen des Asylantrags spurlos verschwunden sind. Setzt man diese in Relation zur Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen, die ursprünglich um Asyl in Österreich angesucht haben, so sind im Vorjahr laut Innenministerium mehr als drei Viertel von diesen scheinbar wie vom Erdboden verschluckt.

Auch im ersten Quartal dieses Jahres wurden demnach bereits 1.462 Asylverfahren eingestellt, weil die Fluchtwaisen, wie die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auch genannt werden, in Österreich nicht mehr auffindbar waren. Freilich korrelieren diese Zahlen mit jenen der Flüchtlinge insgesamt: Wurden 2019 und 2020 weniger als 15.000 Asylanträge in Österreich gestellt, so waren es im Vorjahr rund 40.000. Woran sich aber nichts ändere, sei die Tatsache, dass jedes verschwundene Kind eines zu viel sei, sagt Lisa Wolfsegger von der Asylkoordination Österreich. Das Grundproblem dabei: Solange die Kinder nach dem Asylantrag in der Bundesbetreuung sind, etwa in Traiskirchen oder Reichenau an der Rax, sind sie ohne Obsorge. Es gibt also niemanden, der für deren Pflege und Erziehung oder rechtliche Vertretung zuständig ist. Die meisten seien 14 bis 17 Jahre alt, so Wolfsegger, und solange sie sich nur vorübergehend in Österreich aufhalten, unterliegen sie auch nicht der allgemeinen Schulpflicht.

Opfer von Menschenhändlern

Erst nach dem Zulassungsverfahren, im Zuge dessen geklärt wird, ob Österreich für das Asylverfahren inhaltlich zuständig und der Antrag zulässig ist, wird die Obsorge der Kinder- und Jugendhilfe übertragen. Der unbegleitete minderjährige Flüchtling kommt dann für gewöhnlich in ein Länderquartier.

Bis dahin vergehen durchschnittlich 36 Tage, hat eine Anfragebeantwortung durch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) an Stephanie Krisper, Nationalratsabgeordnete der Neos, vom März dieses Jahres ergeben. Der längste Aufenthalt in der Bundesbetreuung dauerte im Vorjahr 220 Tage. Doch was passiert in dieser Zeit mit den Fluchtwaisen -und was kann passieren?

Die EU-Kommission befürchtet, dass zahlreiche, aktuell aus der Ukraine geflohene Kinder Opfer von Menschenhändlern werden könnten. Etwa die Hälfte der mehr als 3,3 Millionen Menschen, die seit Beginn des Krieges in EU-Länder geflohen seien, seien Kinder, hieß es. In Österreich hat man laut Innenministerium im Jahr 2020 insgesamt 66 Fälle von Menschenhandel aufgedeckt, zehn der Betroffenen waren minderjährig: sechs Buben und vier Mädchen.

Aktuellere Zahlen gibt es derzeit nicht. Im Vorjahr tauchte jedoch ein Großteil der Kinder nach dem Aufenthalt in Österreich in einem anderen Land wieder auf, ergab Karners Anfragebeantwortung an Krisper. Konkret seien mit Stichtag 30. September im Jahr 2021 in rund 84 Prozent der Fälle verschwundener Fluchtwaisen Anfragen anderer EU-Mitgliedstaaten an Österreich gestellt worden. Es handelte sich dabei laut Karner um Dublin-Konsultationsverfahren, um festzustellen, ob Österreich für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist, oder um Informationsersuchen.

"Viele ziehen zu Familienmitgliedern in andere Länder weiter", sagt Wolfsegger von der Asylkoordination Österreich. Zum Beispiel auch zu den Eltern, die sie auf der Flucht verloren haben. Ohne Obsorge und damit ohne konkrete Ansprechperson passiere das aber selten auf legalem Weg. "Sie müssen sich Schleppern anvertrauen." Ein potenziell gefährlicher Schritt in eine ungewisse Zukunft.

Zadic für Obsorge ab erstem Tag

Um diese Lücke der Zeit ohne Obsorge zu schließen, hat Justizministerin Alma Zadic (Grüne) bei einem Kinderschutzgipfel im Mai mit den zuständigen Landesräten einen Entwurf für eine bundesweit einheitliche, lückenlose Begleitung minderjähriger Schutzsuchender vorgestellt. Bei dieser Regelung der "Obsorge ab dem ersten Tag" für Kinder, die ohne Begleitung nach Österreich kommen, herrsche "große Einigkeit" unter den Ländern, heißt es auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" aus dem Justizressort. In einem nächsten Schritt soll der Entwurf auf Fachebene mit den Kinder- und Jugendhilfe-Referenten der Bundesländer weiter diskutiert werden. Denn die Obsorge ist zwar gesetzlich bundesweit geregelt, die Kinder- und Jugendhilfe, die dann auch für die Fluchtwaisen in der Bundesbetreuung die Obsorge übernehmen müsste, ist aber Ländersache.

Fragt man die Länder selbst, ist die geplante "Obsorge ab dem ersten Tag" nicht ganz so einfach - vor allem die Frage des Geldes steht im Raum. "Ich unterstütze die Pläne, Kinderrechte und Kindeswohl müssen für alle Kinder in Österreich im Vordergrund stehen. Zusätzlich zur geplanten Neuregelung braucht es aber auch praktische Verbesserungen", sagt etwa Salzburgs Landeshauptmann-Stellvertreter Heinrich Schellhorn (Grüne) auf Nachfrage. Vor allem brauche es eine Erhöhung der Tagsätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Grundversorgung, "damit wir auch dementsprechend geeignete Betreuungsplätze zur Verfügung stellen können".

Mehr Geld nur für Erwachsene

Denn die Regierung hat diese Woche zwar die Erhöhung der Kostensätze für die Flüchtlingsbetreuung fixiert, allerdings nur für erwachsene Flüchtlinge. Der Tagsatz für diese steigt von 21 auf 25 Euro. Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gibt es indes weiterhin die in der 15a-Vereinbarung über die Grundversorgung geregelten 37 bis 75 Euro pro Tag, je nach Zahl der Betreuerinnen und Betreuer.

Auch die Wiener Kinder- und Jugendhilfe, die Fluchtwaisen unter 14 Jahren im Krisenzentrum Drehscheibe "ab dem ersten Tag" aufnimmt, wie es heißt, fordert eine Erhöhung der Tagsätze. Über 14-Jährige würden von der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen dem Land Wien zugeteilt.

Ob minderjährige Flüchtlinge tatsächlich minderjährig sind, egal ob unbegleitet oder nicht, kann bei bestehendem Zweifel übrigens anhand eines Handwurzelröntgens oder einer medizinischen Altersfeststellung überprüft werden. Einer etwas älteren Anfragebeantwortung Karners an Krisper zufolge wurden beispielsweise von Jänner bis Oktober 2019 auf diesem Weg insgesamt 213 Personen für volljährig erklärt.