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Als der Staatsanwalt in die Krimis kam

Von Daniel Bischof

2008 wurden die Aufgaben der Staatsanwälte massiv ausgeweitet. Strafrechtler ziehen knapp 15 Jahre später Bilanz.


Um ihre Ermittlungen wird gestritten, im U-Ausschuss sind sie Dauergäste: Staatsanwälte werden vermehrt auf die politische Bühne gezerrt. Der Hauptgrund dafür sind ihre Ermittlungen gegen Politiker und Prominente. Die hohe Aufmerksamkeit ist aber auch strukturell bedingt: Durch eine Reform der Strafprozessordnung (StPO) wurde die Rolle der Staatsanwälte im Jahr 2008 stark aufgewertet. Hat sich das bewährt? Was gelingt? Wo hapert es? Eine Bilanz nach knapp 15 Jahren.

Welche gewaltige Veränderung die StPO-Reform mit sich brachte, zeigt sich bereits am Zeitablauf: Sie wurde im Februar 2004 unter der schwarz-blauen Bundesregierung beschlossen. Sie trat aber erst mit 1. Jänner 2008 in Kraft. In den knapp vier Jahren musste erst einmal das dafür notwendige Personal aufgestellt und ausgebildet werden. Die Zahl der Staatsanwälte wurde in dem Zeitraum von 197 auf 324 erhöht.

Das war notwendig, weil die Aufgaben der Staatsanwälte durch die Reform massiv anwuchsen. Die Strafprozessordnung von 1873 trennte die Ermittlungs- und Anklagefunktion der Staatsanwälte scharf. Vor der Reform durften Staatsanwälte selbst nicht ermitteln und keine Untersuchungshandlungen vornehmen, also etwa Beschuldigte vernehmen.

Kein direkter Parteienkontakt

"Staatsanwälte hatten damals keinen direkten Parteienkontakt, weder mit dem Beschuldigten noch dem Opfer. Sie führten ein reines Aktenverfahren", sagt Cornelia Koller, Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung. Vor der Reform konnten sie zwar nicht bindende Anträge auf Untersuchungen an den Untersuchungsrichter oder die Bezirksgerichte stellen und von den Sicherheitsbehörden Erhebungen verlangen. Die Voruntersuchung wurde aber vom Untersuchungsrichter geleitet. Er selbst hatte von Amts wegen einzuschreiten, "um den Tatbestand zu erheben, den Täter zu ermitteln" und die Beweismittel zu sammeln, so die damalige Rechtslage. Und zwar "ohne weitere Anträge des Anklägers abzuwarten".

Diese Systementscheidung sei nicht nur allein dadurch bedingt gewesen, dass "nur einem mit den richterlichen Garantien versehenen Organ die nötige Objektivität und Unvoreingenommenheit zugetraut wurde", schreibt Verfassungsrechtler Ewald Wiederin von der Uni Wien im Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung. "Es war zumindest ebenso sehr die Sorge um Waffengleichheit zwischen den Parteien im Strafprozess, mit der es unvereinbar erschien, dem Staatsanwalt Zwangsrechte über den Beschuldigten einzuräumen und dadurch ,ein Gewaltverhältnis des Anklägers über den Angeklagten zu begründen‘."

Geringe Wahrnehmung in der Öffentlichkeit

Die Kernaufgabe der Staatsanwälte war vor der StPO-Reform 2008 ihre Anklagefunktion. Ihnen wurden die Ermittlungsergebnisse pfannenfertig von Polizei und Untersuchungsrichter serviert. Daraufhin mussten sie entscheiden, ob im konkreten Fall Anklage zu erheben ist. Staatsanwälte seien damit im Kern nur dazu berufen gewesen, Verdachtsmomente, die von Dritten beigebracht wurden, zu beurteilen, schreibt Eckart Ratz, Strafrechtsexperte und ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofes, der sich in mehreren Fachaufsätzen der StPO-Reform gewidmet hat.

In der öffentlichen Wahrnehmung blieben die Staatsanwälte auch unter dem Radar. "Vor 2008 kannte man die Staatsanwaltschaft gar nicht. Was die ist und was die zu tun hat: Das war in der Bevölkerung gar nicht bekannt", berichtet Strafrechtler Alois Birklbauer von der Universität Linz.

Bei manchen Hauptverhandlungen sei der Staatsanwalt von den Beschuldigten als "Herr Richter" angesprochen worden. "Wenn der Staatsanwalt dann gesagt hat, er ist nicht der Richter, sondern der Ankläger, hat der Beschuldigte gefragt: ,Ist das nicht dasselbe?‘" Für einen Vortrag habe er auch einmal Krimis auf die Rolle der Polizei und Staatsanwaltschaften untersucht, schildert Birklbauer. "In denen kam bis 2008 der Staatsanwalt gar nicht vor. Da gab es nur das Gericht und die Polizei."

Mit der Reform 2008 veränderte sich das. Einer der Hauptgründe für deren Umsetzung war die Polizei. Sie spielte in der Praxis bei den Ermittlungen vielfach die dominante Rolle, während der Untersuchungsrichter, der laut der Strafprozessordnung ja den Ton angeben sollte, in den Hintergrund rückte. Birklbauer spricht von einer "Polizeidominanz", die es damals sonst nirgendwo im europäischen Vergleich gegeben habe.

"Da lief vieles nur informell ab"

"Die Polizei hat einmal ermittelt, und wenn sie fertig war, hat sie die Staatsanwaltschaft und das Gericht kontaktiert", schildert der Strafrechtler. Der Untersuchungsrichter sei daher mitunter erst spät in die Untersuchungen eingeschaltet worden. Auch habe die Staatsanwaltschaft wenig Informationen bekommen, "weil es damals noch keine Berichtspflicht der Kriminalpolizei an die Staatsanwaltschaft gab": "Da lief vieles nur informell ab." In der Strafprozessordnung sei der "exorbitant hohe Verantwortungsbereich" der Polizei nämlich nicht geregelt gewesen. Vielmehr seien die Ermittlungen kaum kontrolliert worden, bemängelt Birklbauer.

Durch die Reform wurde der Untersuchungsrichter durch den Haft- und Rechtsschutzrichter abgelöst. Dieser leitet das Ermittlungsverfahren nicht, sondern gewährleistet den Rechtsschutz in dem Verfahren. Herrin des Ermittlungsverfahrens ist seit 2008 die Staatsanwaltschaft. Sie ist dafür zuständig, den Sachverhalt aufzuklären, und kann daher nun selbst die Untersuchungen vornehmen. Die Kriminalpolizei ist ihr funktional untergeordnet. "Die Polizei hat klare rechtliche Grundsätze in der Strafprozessordnung bekommen", sagt Birklbauer: "Es hat sich vieles gebessert, weil es verrechtlicht wurde."

Auch Strafrechtler Klaus Schwaighofer von der Uni Innsbruck hält die Reform für "insgesamt schon gelungen". So seien die Beschuldigtenrechte gestärkt und auch die Rechtsschutzinstrumente im Ermittlungsverfahren verbessert worden: "Die Voraussetzungen der zahlreichen prozessualen Zwangsmittel sind jetzt recht klar determiniert." Und auch das Ermittlungsverfahren sei gut strukturiert, sagt Schwaighofer. Denn früher seien die einzelnen Bestimmung "total verstreut" gewesen.

Debatte um den Rechtsschutz

Für Ratz ist der Gesetzgeber bei der Reform einen fragwürdigen Weg gegangen. Statt die Gesetze zu vollziehen und eine davon abweichende Praxis abzustellen, habe er die Gesetze an diese angepasst. Statt eines nur für den Einzelfall zuständigen und demnach machtlosen Untersuchungsrichters sei mit den Staatsanwaltschaften eine mächtige Behörde bei den Untersuchungen am Zug. Und anstelle einer Außenkontrolle durch Gerichte gebe es nun eine Innenkontrolle durch einen "verwaltungsmäßig organisierten Apparat", schreibt er.

Denn die richterliche Kontrolle im Ermittlungsverfahren funktioniert laut dem Strafrechtler nur eingeschränkt. Die Staatsanwälte müssen nur für die Anordnung einzelner Zwangsmittel wie der Hausdurchsuchung eine gerichtliche Bewilligung einholen, schreibt Ratz. Bei einer Sicherstellung etwa eines Handys ist eine solche aber nicht notwendig. Sie kann erst im Nachhinein vom Beschuldigten beeinsprucht werden.

Ein solcher Einspruch wegen Rechtsverletzung laufe aber ins Leere, kritisiert er. Denn selbst, wenn das Gericht dem Einspruch stattgibt, könnten die auf dem Handy gefundenen Daten von der Staatsanwaltschaft weitgehend verwendet werden. Sie dürften zwar nicht für die Begründung anderer prozessualer Zwangsmittel wie einer Festnahme oder der Anklage herangezogen werden, jedoch als Beweismittel in der Hauptverhandlung. Ratz sieht einen fehlenden Anreiz für Beschuldigte, von der Staatsanwaltschaft angeordnete Ermittlungen durch Beschwerde zu bekämpfen. Dadurch würden die Ankläger über "wesentliche Ermittlungsmaßnahmen, wie die Sicherstellung und Auswertung von Mobiltelefonen", faktisch allein befinden.

Es brauche ein gewisses Maß an Kampfgeist des Beschuldigten, den Rechtsweg zu gehen, sagt Birklbauer. Für das konkrete Verfahren bringe der Einspruch wegen Rechtsverletzung gegen ein staatsanwaltschaftliches Handeln mitunter wenig. Stellt das Gericht fest, dass das Handeln rechtswidrig ist, "dann sind daran keine Konsequenzen für das weitere Verfahren geknüpft". "Aber natürlich bringt es etwas, um Missstände oder Praktiken staatsanwaltschaftlichen Handelns allgemein einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen."

Aufgrund der Macht der Staatsanwälte und der seiner Meinung nach eingeschränkten richterlichen Kontrolle wäre laut Ratz eine effektive Dienstaufsicht der Ankläger durch die Oberbehörden - die Oberstaatsanwaltschaften und das Justizministerium - essenziell. So würden sich Argumente für die StPO-Reform finden lassen, etwa die geballte Führung der Ermittlungen durch Staatsanwaltschaften, die effektiv ihre Ressourcen einteilen können. Allerdings müssten "dann auch die Konsequenzen der Machtverlagerung durch selbstbewusste Dienstaufsicht" abgesichert werden: "Verzicht darauf bedeutet keine Stärkung von Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, sondern Verweigerung rechtsstaatlicher Standards durch Vollzugsorgane", schreibt Ratz.

Kritik an der Weisungsbindung

Eine andere Bewertung der Reform nimmt Standesvertreterin Koller vor. Die Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung sieht keine Lücken bei der richterlichen Kontrolle im Ermittlungsverfahren. "Die Qualität und Anforderungen" ebenso wie der Rechtsschutz seien seit der Reform 2008 gestiegen, so die Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung.

Sie könne keinen "Bleistiftstrich machen ohne Rechtsschutz. Denn jede Anordnung, jede Entscheidung oder nicht ergangene Entscheidung kann bei der Dienstaufsicht oder dem Gericht bekämpft werden", sagt Koller. "Auch die gerade so heiß diskutierte Sicherstellung von Handys kann bereits nach geltender Rechtslage mit Einspruch an das Gericht bekämpft werden", hält die Standesvertreterin fest.

Das Misstrauen werde den Staatsanwälten vielfach gerade deswegen entgegengebracht, "weil wir im Gegensatz zu den Richtern weisungsgebunden sind", meint Koller. Dadurch entstehe der Anschein, "dass man bei uns Einfluss nehmen kann", und das werde als Anlass dafür genommen, "dass man uns eine politische Färbung unterstellt". Kritik an einer mangelnden Dienstaufsicht weist sie zurück. Diese funktioniere justizintern sehr gut und sei ausreichend gegeben, sagt Staatsanwältin Koller.

Versemmelt worden sei justizintern seit der Reform 2008 die Öffentlichkeitsarbeit. "Wir hätten viel mehr Öffentlichkeitsarbeit machen müssen, um die Arbeit der Staatsanwälte zu erklären. Selbst in meinem engsten Umfeld wissen die Menschen nicht, wofür ich eigentlich zuständig bin und welchen Regeln ich unterliege. Da gibt es sicher noch Luft nach oben", sagt Koller.

Informationsdefizite ortet hier auch Birklbauer. Man müsse sich von dem Glauben verabschieden, "dass angeklagt gleich schuldig heißt". Bisher sei das in der Bevölkerung nicht angekommen. "Wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, wird nur einmal etwas geprüft. Mehr heißt das nicht."

Politischer Fokus auf Staatsanwälte

Einen Schwachpunkt sieht Strafrechtler Schwaighofer bei den gerichtlichen Bewilligungen durch die Haft- und Rechtsschutzrichter. Diese müssen staatsanwaltschaftliche Anträge - etwa auf Hausdurchsuchungen - bewilligen. Diese Bewilligung muss nicht schriftlich begründet werden, der Richter kann die Anordnung per Stampiglienbeschluss absegnen. Der Richter muss dazu in das Bewilligungskasterl auf der Anordnung seinen Stempel setzen, unterschreiben und gegebenenfalls eine Frist setzen.

Ablehnungen der Anträge müssen hingegen begründet werden. "Die gibt es nur sehr selten, was schon auch damit zusammenhängen dürfte", sagt Schwaighofer. 2020 wurden laut Justizministerium 5.122 Hausdurchsuchungen bewilligt und 44 Anträge abgelehnt. Schwaighofer räumt aber ein, "dass die Zahl der Haft- und Rechtsschutzrichter an den Landesgerichten so klein ist, dass sie zeitlich gar nicht alle Beschlüsse selbst schreiben könnten".

So unterschiedlich die Bewertungen zur Reform sind, fest steht: Staatsanwälte sind öffentlich präsenter geworden. So kommen sie seit 2008 nun auch in den Krimis vor, in denen sie zuvor nicht auftauchten, schildert Birklbauer: "Dort spielen sie nun eine entscheidende Rolle." Und auch die gestiegene politische Debatte und das häufige Auftreten in den U-Ausschüssen hänge mit der Reform zusammen: "Wenn es die Reform nicht gegeben hätte, würden dort wohl nun die Untersuchungsrichter befragt werden."