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Das Ende der politischen Debatte

Von Simon Rosner

Politik
Illustration: stock.adobe.com / 123levit, blankstock, Feodora
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Nie zuvor wurde öffentlich so viel diskutiert und beteiligen sich auch so viele Menschen an der öffentlichen Debatte. Aber gerade deshalb scheitert sie.


Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben. Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet." Wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, die für Deutschland eine "Zeitenwende" bedeutete, wie es Kanzler Olaf Scholz formulierte, wurde auch in Österreich über die zukünftige Ausrichtung der Sicherheitspolitik öffentlich nachgedacht. Aber nur sehr kurz. Mit der klaren Aussage von Bundeskanzler Karl Nehammer am 7. März war die Debatte auch schon wieder beendet. Und sie wurde danach auch nicht mehr wirklich aufgenommen.

Es dürfte sich damals aber um eine zeitliche Koinzidenz gehandelt haben. Denn die Zeiten, in denen ein Politiker, und sei es der Kanzler, mit einem bundesväterlichen "Ende der Debatte" eine Wirkung erzielt hat, sind lange vorbei. Eine ostentative Diskussionsverweigerung von staatlichen Autoritäten ist heute für Oppositionsparteien und auch Medien viel eher Ansporn, die Debatte justament zu führen.

Tatsächlich erschienen auch in der "Wiener Zeitung" in jenen Tagen fünf größere Gastkommentare zur Frage der Neutralität. Und auch andere Medien widmeten sich diesem wahrlich nicht unwesentlichen sicherheitspolitischen Aspekt. Es ist also nicht so, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht besprochen worden wäre. Auf politischer Ebene fand jedoch eine Widerspiegelung dieser Gedanken damals so gut wie gar nicht statt.

Ein Blick auf das, was in der Woche nach Nehammers Aussage allein innenpolitisch passierte, könnte einen Hinweis geben, wie schwierig es für Diskussionen mittlerweile geworden ist, auch tatsächlich geführt zu werden: Ein neuer Gesundheitsminister wurde angelobt; die Corona-Welle erreichte Rekordwerte; der Vizekanzler legte sich mit der Wirtschaftskammer an; die Impfpflicht wurde ausgesetzt; der U-Ausschuss tagte; Erhard Busek starb; die Regierung wollte die kostenlosen Corona-Tests kürzen; der Außenminister warnte vor einem dritten Weltkrieg. All diese Meldungen eigneten sich auch, diskutiert und kommentiert zu werden, sei es in Kommentaren, Postings oder auch nur Zwiegesprächen. Und das passierte auch, vor allem im virtuellen Raum.

Es ist nur eine Hypothese, aber die politische Debatte könnte tatsächlich darunter leiden, dass es gegenwärtig zu viel von ihr gibt. Es kann freilich nicht die einzige Erklärung dafür sein, dass wesentliche Diskussionen eben nicht geführt werden. Aber vielleicht ist es Grund dafür, dass sich heute alles viel schneller verläuft. Es dauert heute auch nur wenige Tage, bis alle schon alles gesagt haben, im Fernsehen, in Zeitungen, auf Social Media. Das erschöpft die Debatte. Obwohl nur wenige Wochen nach Nehammers Diskussionsende eine sehr breite Gruppe namhafter Persönlichkeiten in einem offenen Brief eine Debatte über Österreichs Verteidigungspolitik forderten, blieb das weitgehend ohne Wirkung.

Die Liste der nichtgeführten Debatten ist lange, wie etwa die demokratiepolitisch nicht unwesentliche Frage, wie der Gesetzgeber damit umgehen soll, dass der Anteil ausländischer Staatsbürger stetig wächst und vor allem EU-Bürger, anders als es die langjährige Erfahrung hierzulande ist, wenig Interesse haben, die Staatsbürgerschaft zu wechseln.

Unstrittig ist, dass heute viel mehr öffentlich diskutiert wird als zu frühen Zeiten. Zum einen funktioniert das Format der TV-Debattensendung ganz offensichtlich nach wie vor sehr gut. Wer einen Kabelanschluss hat, kann sich problemlos 24 Stunden von Talkshow zu Talkshow zappen. Zum anderen haben aber vor allem einige Social-Media-Plattformen ganz neue Räume und Möglichkeiten eröffnet.

Besonders auffällig ist dies bei Twitter. Wer entsprechend vielen Personen und Institutionen dort folgt, kann binnen weniger Minuten durch dutzende parallel stattfindende Debatten scrollen. Aber ist das dann überhaupt noch eine Diskussion? Und was zeichnet eine gute Debatte eigentlich aus?

Das Denken in Bewegung bringen

Als Oscar Bronner 1988 den "Standard" gründete, reservierte er eine Seite für Gastkommentare. Den "Kommentar der Anderen" gibt es heute noch, und mittlerweile haben so gut wie alle Tageszeitungen kuratierte Fremdbeiträge. "Aber damals hat es das nicht gegeben", erzählt Mischa Jäger, der seit Beginn bis 2013 beim "Standard" den "Kommentar der Anderen" betreute. Dass die dort geführten und moderierten Debatten einen Widerhall in der Politik erzeugen, "war mir immer egal", sagt Jäger. Es sei ein instrumenteller Zugang, Debatten nur dann als gelungen zu bezeichnen, wenn sie auch Eingang in politische Verhandlungen finden. Für Jäger sind andere Kriterien bedeutsamer, nämlich dass auf die Argumente der anderen Seite eingegangen wird. Ziel sei, das "eigene Denken durch die Auseinandersetzung in Bewegung zu bringen". Selten, erzählt der Journalist, sei er mit den Debatten wirklich zufrieden gewesen, in dem Sinn, dass sich im Denken der Kontrahenten etwas bewegt habe. "Ich erinnere mich vielleicht an zwei oder drei Debatten, in denen es Wendungen und Verschiebungen gegeben hat."

Also war früher nicht alles besser? Es war jedenfalls alles anders. Der Kreis jener, die sich am öffentlichen Diskurs beteiligten und auch beteiligen konnten, war tatsächlich sehr klein. Im Plenum des Nationalrats saßen zwar auch damals 183 Abgeordnete und ab 1976 gab es mit dem "Club 2" auch bereits eine Diskussionssendung im Fernsehen. Darüber hinaus fand die politische Debatte aber in wenigen Zeitschriften, wie dem "Neuen Forum" statt, gab es einige Diskussionszirkel, mehr oder weniger öffentlich, und die Parteien leisteten sich Publikationen und Denkwerkstätten wie den Kautsky-Kreis (SPÖ) oder das Kummer-Institut (ÖVP), in denen durchaus ausgiebig theoretisiert werden konnte.

Teilhabe musste erstritten werden

Die Teilhabe an der politischen Debatte, und das ist ein großer Unterschied zum Heute, beschränkte sich in den 70ern und 80ern doch auf wenige Gruppen. Es war schon sehr übersichtlich. Für gute Argumente war es dadurch aber wohl einfacher, bis in den Diskurs in der Politik vorzudringen. Auf der anderen Seite waren relevante Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. Eine dieser Gruppen waren: Frauen. Auch im Nationalrat waren nur wenige vertreten, in Bruno Kreiskys letzter Amtsperiode gerade einmal 20, wobei die SPÖ 13 Mandatarinnen stellte, die ÖVP sieben, die Freiheitlichen keine einzige. Ein nicht unwesentlicher Teil der Debattenarbeit bestand für Frauen in jener Zeit darin, sich erst einmal in die Debatte hinein zu reklamieren, ähnlich wie es ab späten Sechzigern Studenten (und tatsächlich wenige Studentinnen) lautstark taten.

Noch Ende der 80er, also in der Anfangsphase des "Kommentar der Anderen", war der Zirkel der Beitragenden überschaubar. Dennoch spricht Jäger von einer "speziellen Phase". Mag sein, dass gerade in der Überschaubarkeit eine Kraft lag. "Es gab damals auch noch Politiker, die programmatisch denken konnten", berichtet Jäger. Das sei heute selten geworden. Jede Partei habe auch ihre Querdenker gehabt - ein Begriff, wie Jäger anmerkt, der heute punziert sei.

Im Jahr 1988 wurde nicht nur der "Standard" gegründet, sondern auch das Geschäftsordnungsgesetz des Nationalrats geändert, übrigens erst zum vierten Mal nach seiner Kundmachung 1975. In der Novelle wurde das Instrument der Enquete-Kommission geschaffen. Dabei handelt es sich um ein eigenes Gremium, das vom Hauptausschuss eingesetzt werden kann. Es dient vor allem zur Diskussion von bedeutsamen, teils sehr umstrittenen politischen Fragestellungen, zu denen auch innerhalb der Klubs die Meinungen abweichen. Eine Voraussetzung ist das zwar nicht für die Einsetzung, sehr oft hat das Parlament von diesem Instrument aber noch nicht Gebrauch gemacht, zuletzt im Jahr 2014, als auf diese Art das Thema Sterbehilfe und der Ausbau der direkten Demokratie parlamentarisch erörtert wurden.

Das Parlament als Dialogforum

Doris Bures, die erstmals 1990 in den Nationalrat gewählt wurde und heute Zweite Nationalratspräsidentin ist, verweist darauf, dass es infolge einer dieser Enquete-Kommissionen, wenn auch einige Jahre und ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs später, zu einer legistischen Veränderung gekommen ist. Es handelte sich um die Sterbehilfe. Auf die Ergebnisse der Beratungen von damals konnte zurückgegriffen werden. "Enquete-Kommissionen sind durchaus sinnvoll bei größeren politischen Themen", sagt Bures, die bedauernd anmerkt, dass derartige Dialogveranstaltungen während der Pandemie nur eingeschränkt stattfinden konnten. "Sie können eine Debatte anstoßen", sagt die SPÖ-Politikerin.

Debatten zu ordnen und zu moderieren, sei auch eine zentrale Aufgabe des Parlaments, so Bures. Dafür stehen auch andere Instrumente zur Verfügung. Es gibt die Möglichkeit von öffentlichen Ausschüssen, Experten-Hearings, normalen Enquetes, und auch (erfolgreiche) Volksbegehren werden im Plenum öffentlich debattiert. Das Präsidium des Nationalrats, so Bures, habe darüber hinaus auch eine Reihe von Instrumenten, um die Debatte zu fördern.

Interessant ist, dass der Gesetzgeber 1988 festgelegt hat, dass nur drei Enquete-Kommissionen gleichzeitig tagen dürfen. Aus den Erläuterungen zur Novelle gehen die Überlegungen für diese Beschränkungen nicht hervor. Aber aus einer von jüngeren Erfahrungen geprägten Perspektive erscheint eine Beschränkung sinnvoll. Wären noch konzentrierte Debatten möglich, neben allen anderen Aufgaben von Abgeordneten, wenn parallel acht oder neun große Themen in Enquete-Kommissionen behandelt werden? "Sachkompromisse brauchen auch einen Freiraum", sagt Bures. Parlamentarische Instrumente zur Diskursförderung alleine reichten aber nicht, es müsse schon eine Bereitschaft für ein Zusammenspiel von Legislative und Exekutive geben, sagt sie. "In einem aggressiven Klima der Feindschaft entstehen Verwerfungen."

Auch das ist ein Kriterium, das über das Funktionieren oder eben nicht Nicht-Funktionieren einer Debatte entscheidet. Ohne Zweifel hat sich in dieser Hinsicht viel verändert, nicht nur im Parlament. In mehr oder weniger geschützten Räumen, wie es Diskussionskreise, Parteizeitungen oder wohl auch Kommentar-Seiten in Zeitungen sind, ist - oder war? - eine gewisse Empathie für die Meinung des Anderen doch vorhanden. Man war ja unter sich und das Gegenüber kann kein schlechter Mensch sein. Die Dinge haben sich geändert, und Mischa Jäger hat es, Schritt für Schritt, im "Standard" miterlebt.

Was es immer gab: Leserbriefe. Doch erst Ende der 1990er gab es Postings unter Artikeln, auch unter Gastkommentaren. Während Leserbriefe eng kuratiert wurden, selten der eine oder andere als Kommentar abgedruckt wurde, war das "Standard"-Forum lange völlig getrennt. Print und Online waren zwei Redaktionen. "Es war schwierig", sagt Jäger. Mit den Postings habe es einen anderen Charakter bekommen. Eigentlich, erzählt er, hätte die Auswahl bei ihm landen müssen. Schließlich handelt es sich ja um eine Erweiterung des Leserbriefes. Doch auch abgesehen von den innerbetrieblichen Aufteilungen zu jener Zeit, würde die Moderation und das Redigat der Postings eine eigene Redaktion benötigen.

Ambivalente Zwischenbilanz

Es handelt sich dabei natürlich auch um eine neue Form von Debattenbeiträgen, deren Bewertung ambivalent ausfällt. Denn nie zuvor war es so niederschwellig und auch einfach, an der öffentlichen Debatte zu partizipieren. Während vor Jahrzehnten für etliche Gruppen das Recht auf Teilhabe entweder auf Demonstrationen oder jedenfalls irgendwie aktionistisch eingefordert werden musste, steht diese Teilhabe zumindest im virtuellen Raum allen offen. Umso umkämpfter ist aber dieser Raum, in dem hart um Deutungshoheit gerungen wird.

Dieser Kampf, und teilweise ist es nicht anders zu bezeichnen, trägt mitunter darwinistische Züge. Übrig bleibt aber nicht, wer das beste Argument hat, sondern die höchste Schmerztoleranz. Einer gelungenen Debatte zuträglich ist weder das, noch sind es Algorithmen, die Provokationen tendenziell mit mehr Aufmerksamkeit belohnen. Trotz dieser "ungeheuren Vielfalt" ortet Jäger ein "eindimensionales Klima". Die Freude, sich in einer Debatte zu exponieren, schwinde. Andere fühlen sich wiederum von der einfachen Möglichkeit angezogen, sich zu exponieren. Um die Diskussion selbst geht es ihnen nicht. Auch das trägt wenig zur Debattenkultur bei.

Dabei hätte das geschriebene Wort Potenzial zur Reflexion, wie aus unzähligen leidenschaftlichen Briefwechseln herauszulesen ist, die heute in Buchform erscheinen. Nicht sofort antworten zu müssen, ist oft kein Fehler. In der Realität von Social Media findet das aber kaum statt. Wobei natürlich auch die Kürze, und nicht nur der Texte, sondern auch der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser, eine Rolle spielten.

Es ist noch nicht ausgemacht, wie die langfristigen Auswirkungen dieser neuen Wirklichkeit des öffentlichen Diskurses sind. Sie unterscheidet sich aber jedenfalls sehr maßgeblich von jener vor einigen Jahrzehnten. Und es ist gut möglich, dass der Befund in weiteren Jahrzehnten auch kein eindeutiger, sondern ein bleibend ambivalenter sein wird.

Zwiespältig ist aber auch der Einfluss der virtuellen auf bestehende Diskursräume. Der große Hype mag vorbei und die Erkenntnis gereift sein, dass nicht jede Twitter-Debatte auch in klassischen Medien widerhallen muss. Aber scharf trennen lassen sich diese Räume nicht. Auch die Politik schwankt zwischen aktiver Teilnahme und Ablehnung, zwischen Verhöhnung, manchmal auch Sorge ("Fake News"), und Faszinosum. So mancher Politiker hat dank Social Media auch seine Karriere befördert.

Von der Konsens- zur Konfliktdemokratie

Bures erinnert sich an ihre Anfänge im Nationalrat Anfang der Neunziger, die geprägt waren von einem schärfer werdenden Diskurs, ausgehend von Jörg Haiders FPÖ. "Diese Radikalisierung hat ja auch innerhalb der Partei zu einem Bruch geführt", sagt Bures. Mit dieser damals für Österreich neuen Rhetorik konnten die etablierten Parteien, aber auch viele Medien, nicht umgehen. Und hier ist eine Parallele zu Social Media zu ziehen. Wie soll man bloß mit dieser Lautstärke umgehen? Die leise Antwort droht, nicht gehört zu werden. Eine laute kann jedoch die eigene, auf Differenzierung abzielende Botschaft konterkarieren. Ein Dilemma.

Für Bures kennzeichnet diese Phase als Anfang vom Ende der Konsensdemokratie, die sich, das sei hier angemerkt, durch die Abwesenheit einer öffentlichen Debatte ausgezeichnet hat. Es regierte der institutionalisierte Kompromiss. "Großparteien sind aufgrund der Fragmentierung der Politik nicht mehr wie früher alleiniges Kraftzentrum", sagt Bures. Die politische Landschaft sei nun breiter, "was eigentlich europäische Normalität ist", doch der Diskus "ist auch entsprechend aggressiver geworden".

Der Diskurs, vor allem innerhalb der Politik, ist aber auch eindimensionaler als früher. Es war zu jeder Zeit wichtig, mit einem Argument die eigene Basis anzusprechen. Aber die meisten wollten mit einem Argument auch überzeugen und den diskursiven Wettstreit gewinnen. Je härter aber der Kampf um jede Wählerin und jeden Wähler geführt wird, desto größer ist die Gefahr der Parole ans eigene Lager, die als Argument getarnt wird. Es sind Phrasen, die zu einfältig sind, um sie wirklich ernst zu nehmen. Verschärfend kommt aber hinzu, dass diese Phrasen aufgrund ihrer digitalen Vervielfältigung nicht nur ein- bis zweimal, sondern dutzende Male ins Auge stechen. Das kann schmerzhaft sein.

Den zweiten historischen Bruch im Parlament ortet Bures in der ersten schwarz-blauen Koalition im Jahr 2000. Das sei der finale Schritt von der Konsens- zur Konfliktdemokratie gewesen. "Der Dialog wird seltener gesucht", sagt Bures. Gemeint ist damit auch das vertraute Gespräch, denn Öffentlichkeit zu jeder Zeit macht Debatten oft nicht einfacher. "Dieser Raum ist verloren gegangen." Ob in einer Konfliktdemokratie Dialogveranstaltungen wie eine Enquete-Kommission nicht sinnvoll sind? Oder deklamieren die Parteien ihre Positionen dann verteilt auf ein halbes Jahr, immer und immer wieder? Bures verneint scharf: "Dialogveranstaltungen sind immer sinnvoll."