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"Lücken der Repräsentation werden größer"

Von Simon Rosner

Politik
Illustrastion: stock.adobe.com / freshidea
© Illustrastion: stock.adobe.com / freshidea

Wie unser Wahlrecht entstanden ist und wie es sich weiterentwickeln könnte. Ein Demokratiegespräch mit Tamara Ehs.


Die SPÖ Wien hat in der "Demokratie-Charta" Erleichterungen bei Einbürgerungen gefordert. Bereits vor einem Jahr hatte auch die Bundes-SPÖ eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes angeregt. Die Sozialdemokraten argumentieren dies mit demokratiepolitischen Erwägungen. Ein Drittel der Bevölkerung Wiens ist mangels Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt, unter Arbeiterinnen und Arbeitern sind es 60 Prozent. Hohe Einkommenshürden und Gebühren bei der Einbürgerung seien ein Schritt in Richtung Zensuswahlrecht, argumentiert die SPÖ. Die "Wiener Zeitung" sprach darüber mit der derzeit in Frankfurt lehrenden Wiener Demokratieforscherin Tamara Ehs.

"Wiener Zeitung": Was bedeutet Repräsentation im Zusammenhang mit unserer Demokratie, und wie haben sich die Väter unserer heutigen Demokratie Repräsentation vorgestellt?

Tamara Ehs: Wenn man bis in die Antike zurückgeht, betraf das nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, nämlich die männlichen Bürger Athens; nicht die Frauen, nicht die Metöken, nicht die Sklaven. Es wurde auch kaum gewählt, sondern Ämter wurden gelost. Die repräsentative Wahldemokratie kam mit den Revolutionen. Ab da machte man sich auch Gedanken, wer wahlberechtigt sein soll. Die Parole im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg "No taxation without representation" war die Idee, dass jene, die Steuern zahlen, auch über die Verwendung des Geldes mitreden können sollen. Auch in Europa.

Wann kam die Koppelung des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft?

Erst mit der Gründung moderner Nationalstaaten mit einem stehenden Heer, weshalb zuerst Männern das Wahlrecht zugebilligt wurde.

Frauen waren also ausgeschlossen.

Auch viele Männer waren ausgeschlossen. Bevor man auf Staatsbürgerschaft setzte, zählte Geld. In der Großgrundbesitzerkurie waren Frauen zum Reichsrat wahlberechtigt, auf Gemeinde- und Landesebene auch jene, die eine gewisse Steuerleistung erbrachten. Es gab auch einen "Bildungszensus", da waren Lehrerinnen wahlberechtigt, die aber bei Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts wieder entrechtet wurden.

Die SPÖ Wien spricht jetzt von einem neuen Zensuswahlrecht wegen der Einkommenserfordernisse im Staatsbürgerschaftsrecht. Berechtigt?

Die Abschaffung des Zensuswahlrechts war ein Ur-Thema der Sozialdemokratie, da es die Arbeiterklasse fast zur Gänze ausschloss. Es ist nun insofern eine neue Form, weil Menschen unterer Einkommensklassen das Wahlrecht nicht über die Staatsbürgerschaft "erwerben" können, auch wenn sie sonst alle Kriterien erfüllen. Geschätzt wird, dass rund 40 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher diese Einkommenserfordernisse nicht erfüllen würden.

Die enge Bindung zwischen Wahlrecht und Staatsbürgerschaft ist aber überall recht unverändert geblieben, oder?

Auf nationalstaatlicher Ebene schon, nicht aber auf kommunaler Ebene. Bei klassischen Einwanderungsstaaten sehen wir zudem, dass der Zugang zur Staatsbürgerschaft leichter geworden ist und etwa im Land geborene Kinder automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten. Oder das Thema Doppelstaatsbürgerschaft. Österreich ist derzeit auf allen diesen gesetzlichen Ebenen sehr restriktiv.

Mehr als die Hälfte der Ausländer sind EU-Bürger, die weitgehend gleiche Rechte haben und viel seltener um Einbürgerung ansuchen. Ist das ein Konstruktionsfehler der Personenfreizügigkeit?

Die Unionsbürgerschaft ist im Sinne der wirtschaftlichen Freiheiten konzipiert worden. Es ging nicht darum, einen Raum der Demokratie zu schaffen. Bei der "Konferenz zur Zukunft Europas" wurden im Vorjahr aber die Repräsentationslücken diskutiert. Es gibt den Wunsch, die Unionsbürgerschaft mit mehr demokratischem Potenzial zu versehen. Aber dazu bräuchte es die Mitgliedstaaten. Momentan blockiert der Rat einen Verfassungskonvent. Ein Konstruktionsfehler ist es aber nicht, denn in der wirtschaftlichen Union haben sich die Freiheiten gut etabliert.

Also kein Konstruktionsfehler, aber eine unerwünschte demokratiepolitische Nebenwirkung? Denn es ist ja durchaus gewünscht, dass die Menschen innerhalb Europas stärker migrieren.

Die unmittelbar umsetzbaren Schritte sind eher technischer Natur, etwa ein europäisches Wählerregister. Wer innerhalb der EU übersiedelt, muss sich in vielen Staaten als Wähler anmelden, um zu seinem Wahlrecht zu kommen. Außerdem sind weder Wahlsystem noch aktives und passives Wahlalter einheitlich.

Dass EU-Bürger auf kommunaler Ebene wählen dürfen, wurde EU-rechtlich verankert: Warum gibt es darüber hinaus keine Diskussionen über eine Erweiterung des Wahlrechts?

Es wird schon diskutiert. Der Vorarlberger Landtag hat vor fast vier Jahren beschlossen, dass er ein Wahlrecht für EU-Bürger auf Landesebene will. Nur kann Vorarlberg das nicht ändern, sondern nur einen Brief an den Bund schicken. Diese Ideen gibt es also, auch in anderen Staaten, aber sie sind noch nicht mehrheitsfähig.

Dafür gibt es in Europa einen Trend zur Mehrstaatigkeit. Eine deutsch-belgische Doppelstaatsbürgerin kann heute in beiden Ländern wählen und damit für den Europäischen Rat zwei Stimmen vergeben. Ist das nicht auch ein demokratiepolitisches Defizit?

Ja, vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Menschen auf Ebene der Nationalstaaten überhaupt nicht wählen dürfen. Ich würde das eine nicht ohne das andere diskutieren.

Ist ein Wohnsitz-Wahlrecht der logische nächste Schritt?

Das wird in der Politikwissenschaft als "Wohnbürgerschaft" diskutiert. So hat der Migrationsforscher Rainer Bauböck "Stakeholder citizenship" übersetzt. Man könnte durchaus dort, wo man einen längeren Aufenthalt hat, zum Beispiel über die Dauer einer Legislaturperiode, das Wahlrecht auf nationalstaatlicher Ebene erwerben. In Neuseeland kann man nach einem Jahr legalen Aufenthalts wählen.

Und im Herkunftsland würde man dafür das Wahlrecht wieder verlieren?

Ja, wiederum für die Zeit des Aufenthalts im Ausland. Das wäre die Konsequenz.

Die diversen Formen deliberativer Demokratie werden oft als Erweiterung des Wahlrechts gesehen. Aber ist das bei wachsendem Anteil von Nicht-Wahlberechtigten nicht zynisch? Wahlrecht gibt es nicht, aber bei Bürgerräten darf man mitreden.

Grundsätzlich ist es als Stärkung der repräsentativen Demokratie gedacht, da es auch viele wahlberechtigte Nichtwähler gibt. Mit deliberativen Elementen, bei denen mittels Losverfahren Einladungen ausgesprochen werden, wird versucht, diese Personen wieder einzubinden. Aber mittlerweile ist es auch eine Art Pflaster für andere Repräsentationslücken geworden, weil man sich nicht auf größere Lösungen einigen kann.

In Wien besitzen in großen Branchen wie in der Gastronomie oder am Bau mehr als 60 Prozent eine ausländische Staatsbürgerschaft. In der öffentlichen Verwaltung, wo jeder siebente Beschäftigte arbeitet, sind es nur wenige. Was bedeutet das?

Eine exakte deskriptive Repräsentation, dass das Parlament die Bevölkerung widerspiegelt, gibt es nirgends. Aber die Repräsentationslücke wird größer. Ich habe mir erst kürzlich Daten aus Frankreich dazu angesehen: In den 1950ern war ein Viertel der Abgeordneten zuvor Arbeiter oder Angestellte, heute sind es nur mehr 2,1 Prozent. In Deutschland und Österreich ist der Trend ähnlich.

Tamara Ehs ist Demokratiewissenschafterin. Derzeit arbeitet sie an der Forschungsstelle Demokratische Innovationen der Goethe-Universität Frankfurt.

Die SPÖ argumentiert, dass 60 Prozent der Arbeiter in Wien nicht wahlberechtigt sind, bei Hilfsarbeitern gar 82 Prozent. Was bedeutet das?

Das verzerrt das Wahlergebnis im Sinn der politischen Wünsche. Das zeigt sich etwa am Beispiel von Vermögenssteuern. Alle Umfragen deuten auf eine klare Mehrheit für Vermögenssteuern für besonders Reiche. Politisch ist das aber nicht umzusetzen. Was Wahlrecht und Wahlbeteiligung betrifft, sind Junge, Arme und Städter unterrepräsentiert. Mit der Repräsentation schwindet auch die Responsivität, also auf welche Anliegen die Politik Antworten liefert.

Auf Wien lässt sich das aber nicht umlegen, da ja das gesamte Elektorat aus Städtern besteht.

Da hake ich gleich ein, weil Wien auch im Nationalrat unterrepräsentiert ist. Die 183 Mandate werden nach der Staatsbürgerzahl, nicht nach Wahlberechtigten oder Einwohnerzahl auf die Bundesländer verteilt. Wien ist das bevölkerungsreichste Bundesland, dennoch verfügt Niederösterreich über mehr Sitze im Nationalrat. Für Wien können maximal 33 Sitze vergeben werden, für Niederösterreich 37. Würde man Mandate nach einer Bevölkerungszahl berechnen, würde sich dies umkehren. Wenn man sich nun ansieht, dass Städter auch anders wählen, unter anderem liberaler und mehr sozialdemokratisch, hätten wir wohl andere Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat. Das muss man realpolitisch bedenken, wenn sich gerade die SPÖ Wien dafür starkmacht, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Und man weiß auch, warum andere Parteien dagegen sind.