Die Mängel bestehen nicht in fehlenden gerichtlichen oder polizeilichen Befugnissen, sondern liegen im unzureichenden Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Stellen und in Organisationsproblemen und der Behördenkultur des Sicherheitsapparats." Zu diesem Schluss kam im Februar 2021 die sogenannte Zerbes-Kommission, die über mehrere Monate hinweg das Behördenversagen rund um den Terroranschlag vom 2. November 2020 untersucht hatte. Auf 31 Seiten fasste das fünfköpfige Gremium seine Untersuchung der Behördenhandlungen im Vorfeld des Anschlags zusammen und hatte auch Empfehlungen parat.
Zwei Jahre später stellen sich Behörden bei einer Standortbestimmung der "Wiener Zeitung" selbst ein gutes Zeugnis aus. Deradikalisierungsprogrammen mangelt es allerdings weiterhin an struktureller und finanzieller Ausstattung.
Im Justizbereich rechtlicher Rahmen ausgebaut
In ihrem Bericht stellte die Kommission fest, dass es nicht an gesetzlichen Rahmenbedingungen fehle, da "kein Defizit des bestehenden Terrorismusstrafrechts" zutage getreten sei. Bald nach dem Anschlag legte das Justizministerium trotzdem ein Terror-Bekämpfungs-Gesetz vor, in dem auch einige Forderungen der Zerbes-Kommission aufgegriffen wurden. So wurden sogenannte Fallkonferenzen eingeführt. Dabei schicken die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) und eine neu eingeführte Koordinationsstelle Extremismusbekämpfung und Deradikalisierung Stellungnahmen an das Gericht, das über bedingte Entlassungen entscheidet. Außerdem kann eine Probezeit verlängert werden, wenn notwendig. Damit haben Behörden länger Zugriff auf mögliche Gefährder.
DSN-Reform und geteilte Aufsicht
Die meisten Pannen vor dem Anschlag gab es im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums. Vor allem der Informationsfluss zwischen dem damaligen Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT), den Landesämtern (LVT) und Staatsanwaltschaften war für die Kommission mangelhaft. BVT und LVT Wien hätten die gesteigerte Radikalisierung des späteren Attentäters "immer nur punktuell" erfasst und dies nicht an die Staatsanwaltschaft gemeldet. Die Strafrechtlerin Ingeborg Zerbes sprach sich deshalb für eine institutionsübergreifende Datenbank aus, auf die alle zuständigen Dienststellen zugreifen können. Auch die Zuständigkeitsverteilung zwischen BVT, heute DSN, und den LVT gehöre überarbeitet, so die Kommission im Jahr 2021.
Das Innenministerium sieht die meisten Punkte als erfüllt an: Mit der Reform des DSN sei der Informationsaustausch "durch die Einrichtung eines gemeinsamen Informations- und Lagezentrums verbessert" worden. Dort würden - wie von der Zerbes-Kommission gefordert - regelmäßige Besprechungen zwischen DSN und LVT stattfinden, um das Arbeitsklima zu verbessern. Auch die Datenbank gebe es, die sowohl von der DSN als auch von den LVT benutzt werden würde, so das Innenministerium. Außerdem nehme das LVT an Fallkonferenzen teil.
Ein Kritikpunkt, der nicht gelöst werden konnte, ist die Aufsicht über die Landesämter, die sich die Landespolizeidirektionen und die DSN weiterhin teilen müssen. Laut Ministerium sei das nicht anders zu lösen, weil die Landesämter in den Bundesländern stark mit den Polizeidirektionen verzahnt seien. Die Struktur sei "aus derzeitiger Sicht zweckmäßig".
Verein "Derad" weiterhin
ohne Finanzierung
Weiterhin problematisch erweist sich die Situation bei der Deradikalisierungsarbeit: Es fehlen eine gesicherte Finanzierung und strukturelle sowie gesetzliche Rahmenbedingungen, resümierte die Zerbes-Kommission 2021. An dem Befund habe sich bis heute nichts geändert, sagt der Verein Derad, der Deradikalisierungsarbeit betreibt.
Man müsse weiterhin vieles ehrenamtlich leisten, da man etwa die Teilnahme an Fallkonferenzen oder Beratung von Magistraten der Stadt Wien nicht bezahlt bekomme. Auf politischer Ebene stoße man auf taube Ohren, so Derad. Die Behörden schieben sich bei den Kosten gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Die Stadt Wien sagt, ihr fehle die Regelung, um Derad zu bezahlen. Gerichte vertreten meist die Meinung, dass die Kosten für vom Gericht beauftragte Deradikalisierungsarbeit von den Verurteilten zu zahlen seien, was diese in den meisten Fällen nicht können. Derad bleibt in dem einen wie anderen Fall meist auf seinen Kosten sitzen. Für andere Einrichtungen existieren solche Rahmenbedingungen. Nur die Arbeit in den Vollzugsanstalten wird von der Justiz auf Honorarbasis abgerechnet. Auch das LVT Wien entlohnt den Verein für die Präventionsarbeit. Abseits von einem kleinen Büro gebe es keine Förderungen.
Auf Anfrage der "Wiener Zeitung" teilte das Ministerium mit, dass man bei Leistungen im Straf- und Maßnahmenvollzug "bemüht" sei, für "eine entsprechende Absicherung der Finanzierung" zu sorgen.