Es hätte die Lösung eines schon länger gesehenen Problems sein sollen. Am Ende hat es einen in der Praxis problemlosen Ablauf verkompliziert, in vielen Situationen sogar verunmöglicht. Das Gesetz sieht einen erklärenden Erlass vor, den es zwei Jahrzehnte lang nicht gab. Bis dahin hatten Historiker und Historikerinnen problemlos Zugriff auf Justizakten, die älter als 50 Jahre sind. Als der Erlass des Justizministeriums 2019 kam, änderte das den reibungslosen Ablauf. Sehr zum Leidwesen der Archive, Forscher und Gerichte, die nun darüber entscheiden müssen, wozu Historiker und Studierende Zugriff bekommen.
Wissenschafter beklagen, dass sie seit drei Jahren einen erschwerten und bürokratisch aufwendigen Zugang zu forschungsrelevanten Akten der Justiz haben. Die Archive monieren, dass sie manche Justizakten übernehmen, jedoch nicht über sie bestimmen können. Und die Gerichte stoßen sich am Mehraufwand und einer 50 Jahre langen Aufbewahrungspflicht, die bei einigen Gerichten zu Platzproblemen führen. "Akten, die für Historiker ursprünglich frei zugänglich waren, wurden über Nacht gesperrt und seitdem laufen sich alle Versuche tot, hier Bewegung reinzubringen", sagt Florian Wenninger, vom Institut für Historische Sozialforschung und dem Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Er hat sich mit einigen Kolleginnen und Kollegen nun an die Volksanwaltschaft gewandt. Mit ihrer Hilfe soll das Problem in absehbarer Zeit gelöst werden. Im Notfall auch mit einem aufwendigen und langwierigen Gang vor den Verfassungsgerichtshof.
Das Ministerium stellt klar: Die Gerichte müssen entscheiden
Das Problem sei komplex, betont die Leiterin des Wiener Stadt- und Landesarchives, Brigitte Rigele. Es umfasst mehrere Bundes-, neun Landesgesetze sowie Verordnungen. Die Details sind kompliziert, im Grunde geht es um Folgendes: Justizakten haben im Bundesarchivgesetz eine Sonderstellung. Zur Klarstellung, wie man die unterschiedlichen Vorschriften anwenden sollte, erarbeitete das Justizministerium einen Erlass.
Dieser Erlass besagt, dass Gerichte über alle Akten entscheiden müssen, die nicht als "historisch wertvoll" kategorisiert sind. Und das seien die wenigsten, meint Rigele. Was dazu führe, dass die Landesarchive relativ viele Akten hätten, über die sie nicht entscheiden dürften. Manche Archive würden deshalb keine Akten mehr annehmen. "Die Landesarchive wollen keine Akten mehr übernehmen, die die Nutzer nicht nutzen können."
Die Gerichte sind in ihrer Handhabung zudem restriktiver als Archive, kritisieren Historiker. Vor der Klarstellung des Justizministeriums hätten meist Archive über den Zugang entschieden, doch das ist nun nicht mehr möglich. Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien nennt die derzeitige Situation "untragbar". Entscheidungen wirken für ihn teilweise "willkürlich und extrem zeitverschleppend". Und es könne passieren, dass am Ende der Zugang einfach verwehrt wird.
Auch Wenninger stört die Vorgehensweise: "Die Bewilligung wird ohne ersichtliche Gründe regelmäßig verweigert, auch abhängig vom jeweiligen Landesgericht." In einem aktuellen Fall haben Historiker vor 2019 Akten aus dem Landesgericht Salzburg gesichtet. Nun wollten sie die Akten ein zweites Mal einsehen, doch das Landesgericht benötigt dafür nun die Erlaubnis des Justizministeriums.
Vor allem Hobbyhistoriker, Geschichtsvereine, zum Teil aber auch Studierende hätten kaum Chancen auf Einsicht. "Die zeithistorische Forschung wird beeinträchtigt, sie wird behindert und es schwebt ein Damoklesschwert über ihr", sagt Rathkolb zur "Wiener Zeitung". Denn man wisse nie, ob man Zugang bekomme oder seine Zeit verschwendet habe.
Das Landesgericht Innsbruck erklärt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass Akten, egal wie alt, den Regeln der Akteneinsicht unterliegen würden. Wer keine Partei ist, hat keinen Zugang. Es gebe aber eine Ausnahme für die Wissenschaft, hier müsse ein Institutsleiter anfragen. Diesen Anfragen würde auch immer wieder stattgegeben, heißt es aus Innsbruck. Nur bei privaten Ahnenforschern oder "privaten Forschungsinstituten", werde er verweigert. Das sei eine "grundlegende Geschichte des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte" - etwa bei Inkognito-Adoptionen. Dass Historiker bei ihnen kaum mehr Zugang zu Altbeständen bekommen würden, will man in Innsbruck nicht gelten lassen. Man erteile sehr wohl Genehmigungen, wo es das Gesetz zulasse. Wo es das Gesetz nicht zulässt, ist die Entscheidung endgültig.
Das Problem ist bekannt,
eine Lösung nicht in Sicht
Im Justizministerium kennt man das Problem, die seit drei Jahren amtierende Justizministerin Alma Zadic wurde mehrfach damit konfrontiert. Schon im Mai 2022 erklärte sie, dass das Thema bekannt sei, Anregungen von Historikern und Historikerinnen vorliegen würden. Nur verbessert hat sich die Lage seither nicht.
Auf Anfrage der "Wiener Zeitung" meinte das Ministerium bloß, dass derzeit Gespräche stattfinden würden. Das Problem für das Justizministerium sei, die "Einsichtsregime der Archive, die das berechtigte Interesse an Forschung im Blick haben, und das Einsichtsregime der Strafprozessordnung sowie der Zivilprozessordnung, die den notwendigen Schutz der zum Teil sehr sensiblen Daten im Fokus haben, in Einklang zu bringen".
Für Rigele vom Stadt- und Landesarchiv Wien kann die Situation nur gelöst werden, wenn Justizakten wieder als Archivgut gelten. "Anders sehe ich keine Lösung", so die Archivleiterin.
"Wenn man sich an das Justizministerium wendet, bekommt man die Auskunft, dass man es dort nicht lösen könne, da es eine Novellierung des Archivgesetzes brauche", so Rathkolb. Auf eine dahingehende Anfrage meint eine Sprecherin von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), man solle sich ans Österreichische Staatsarchiv wenden. Die nachgereihte Institution kann aber keine Aussagen über politische Absichten abgeben.
Das historische Gedächtnis der vergangenen Jahre gelöscht
Der "Wiener Zeitung" wurde von mehreren mit dem Sachverhalt vertrauten Personen auch noch ein anderer Grund für die Verzögerung genannt: Die ÖVP sei nicht sonderlich erpicht darauf, dass das Bundes-Archivgesetz novelliert wird. Denn derzeit regelt das Gesetz aus 1999 nicht, wie mit E-Mails, Chats oder digitalen Kalendereinträgen umzugehen ist. Sie gelten demnach nicht als Archivgut und können vernichtet werden. Bei einer Novellierung im Jahr 2023 wäre der Erklärnotstand groß, weshalb man nicht auch Regeln für die digitale Kommunikation einführt - vor allem nach den jahrelangen Aufregern rund um Chatnachrichten.
Zeithistoriker sehen darin ein größeres Problem als in den Justizakten. Es sei nicht mehr möglich, Entscheidungen nachzuvollziehen, warnt Rathkolb. "Wir stehen vor einer mittleren digitalen Katastrophe und werden auf einen methodischen Zugang zurückgeworfen, den wir aus der Archäologie kennen." Österreichs Forschung würde so das Gedächtnis der vergangenen Jahre verlieren.
Hoffnungen, dass die Regierung zu einer baldigen Lösung kommt und zeitgeschichtliche Forschung wieder einfacher zugänglich macht, scheinen fehlgeleitet. Die Historiker und Historikerinnen setzen nun auf die Hilfe der Volksanwaltschaft.