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Die Gefährlichkeit des Ungenannten

Von Michael Schmölzer

Politik
Sabine Scholl versteht nicht, "warum es diesen Kameradschaftsbund noch gibt".
© Michael Schmölzer

Österreichs NS-Vergangenheit: die Literatin Sabine Scholl über die alltägliche Kultur des Schweigens.


Sabine Scholl hat sich in ihrem Werk theoretisch und praktisch damit auseinandergesetzt, wie historische Fakten in Kunst umgewandelt werden können. Die vielfach ausgezeichnete Literatin und Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten hat dazu das Buch "Lebendiges Erinnern" geschrieben. Zuletzt erschien ihr Roman "Die im Schatten, die im Licht" - hier geht es um Frauen, die sich während der NS-Diktatur ganz unterschiedlich verhalten haben. Die "Wiener Zeitung" hat Scholl, die am Samstag, 1. April, um 20 Uhr bei den Rauriser Literaturtagen lesen wird, zum Gespräch gebeten.

Wiener Zeitung: Der bildende Künstler Bernhard Gwiggner hat zuletzt in der Salzburger Gemeinde Neumarkt am Wallersee ein NS-Verbrechen nachgestellt: Der Mob hat dort 1939 das Haus eines Mannes demoliert, der eben erst aus dem KZ zurückgekommen war. Gwiggner hat nun in einer Kunstinstallation Freiwillige aufgefordert, mit Steinen extra bereitgestellte Fenster einzuschießen. Ist das für Sie ein taugliches Mittel, NS-Verbrechen sichtbar zu machen?

Sabine Scholl: Eine wichtige These meines Buches ist es, die Erinnerung wieder lebendig zu machen. Zum Teil ist es auch literarisch so, dass die historischen Ereignisse körperlich nachgestellt werden. Das passt ziemlich gut, weil da ursprüngliche Emotionen aufgerufen werden. Etwa die Angst, von dem Stein am Kopf getroffen zu werden. Wenn man so etwas nacherlebt hat, vergisst man das nicht.

Für Sie spielen einerseits historische Quellen, also Fakten, eine große Rolle. Da muss man sehr exakt sein, sagen Sie. Auf der anderen Seite werden diese Quellen erst dann lebendig, wenn die trockene Materie in Literatur transformiert wird. Es wird dann fiktional. Besteht da nicht die Gefahr, dass es dann heißt, das habe alles mit der Realität nichts zu tun? Das seien ja Ausgeburten der Fantasie?

Bei allen Beispielen, die ich in dem Buch beschreibe, werden die Quellen offengelegt. Die Autoren erfinden ja nicht irgendetwas aus dem Nichts. Denn dann wird es tatsächlich schnell oberflächlich. Je mehr man sich mit tatsächlichen Quellen auseinandersetzt, desto weniger läuft man Gefahr, dass das so verwaschen wird. Das Wissen in den Archiven ist auch ein Herrschaftswissen. Nicht jeder Mensch recherchiert in historischen Archiven. Man schafft auch eine gewisse Zugänglichkeit, indem man fiktionale Elemente einfügt.

Gibt es da noch einen weiteren Mehrwert?

Das Wichtige ist, dass eine Verbindung zur Gegenwart hergestellt wird. Dass es nicht beim Historischen bleibt, sondern dass durch die Nennung von Namen realisierbar wird, dass hier etwas Schreckliches geschehen ist. Dass es nicht nur die Menschen damals betroffen hat. Sondern dass es, indem man nicht darüber spricht, es verschweigt und die Spuren verwischt, im Inneren und in der Atmosphäre des Ortes erhalten bleibt. Solange es nicht besprochen und aufgedeckt wird, wird es weitergetragen. Das ist das Gefährliche daran.

Ein Blick nach Niederösterreich verdeutlicht das. Wo die "Kellernazis", wie es Vizekanzler Werner Kogler formuliert hat, jetzt politisch befördert wurden. Der Bogen zur Gegenwart, zum Jetzt ist ja ohnehin immer da.

Ein wesentliches Element in meinem Buch ist das Konzept der "Post-Memory". Bedeutet das Sterben der NS-Zeitzeugen, dass wir nicht mehr darüber reden können? Ich glaube, das lässt sich auch als Herausforderung sehen. Man kann im Netz so viele Zeitzeugenberichte und Videos abrufen, Transskripte lesen, zu Gedenkstätten gehen. So lange wurde nur von den Hauptschauplätzen des Holocaust gesprochen. Erst jetzt finden mit Hilfe sehr vieler engagierter Lokalhistoriker die kleineren Orte, die Nebenlager, die Unterkünfte für Zwangsarbeiter Beachtung. Ich bin auch auf dem Land aufgewachsen, mir wurde nie erzählt, ob da in unmittelbarer Nähe NS-Verbrechen stattgefunden hatten.

Es gibt doch überall noch Kameradschaftsbünde und das Schwarze Kreuz. Die errichten diese Heldendenkmäler mit den Namen der Gefallenen, die es in jedem Ort gibt, und wollen die toten Soldaten, die man heute noch überall in Österreich findet, würdig bestatten. Aber sind das nicht eigentlich Organisationen, die die Vergangenheit zuschütten wollen?

Da sind die Positionen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oft so verhärtet, dass es schwierig ist, etwas zu vermitteln. Es ist ein enorm schwieriger sozialer Prozess, der im Kleinen ausgehandelt werden muss. Oft sind diese Gefallenendenkmäler Pilgerorte, wo die, die da begraben sind, nicht aus der Gegend, sondern da gefallen sind. Das hat dann überhaupt nichts mit der Ortsgemeinschaft zu tun. Trotzdem wird das von Seiten des Schwarzen Kreuzes verteidigt.

Es könnte ja genauso gut ein Trauerort sein, wo man sieht, wie verrückt die Nazis waren, die in den letzten Kriegstagen noch halbe Kinder in den Tod geschickt haben.

Das scheint mit diesem über Generationen unaufgearbeiteten Heldentum tun zu haben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum es diesen Kameradschaftsbund noch gibt. Es gibt doch heute keine Kriegskameraden mehr, die sind doch alle tot.

Sie haben in Portugal unterrichtet - dort gibt es eine faschistische Vergangenheit. Sie waren lange in Japan, einem Land mit einer sehr autoritären und brutalen Geschichte. Unterscheidet sich das von der österreichischen Verdrängung?

Ich würde sagen, es gibt in Japan so gut wie überhaupt keine Aufarbeitung. Das wird nicht gewünscht. Ich habe selbst noch miterlebt, dass es geheißen hat, man dürfe die Kinder nicht traumatisieren, indem man erwähne, dass es im Zweiten Weltkrieg japanische Massaker gegeben hätte. Das ist ja schließlich aus den Geschichtsbüchern wieder entfernt worden.

Wobei es nach 1945 in Japan schon eine pazifistische Grundhaltung gab.

Kriegsverbrechen waren zu der Zeit, als ich in Japan gelehrt habe, ziemlich tabu.

Und in Portugal?

Ich war ungefähr 15 Jahre nach dem Ende der Salazar-Diktatur dort. Da ist überhaupt nicht darüber gesprochen worden. Es wird erst jetzt damit begonnen, die Salazar-Ära aufzuarbeiten. In den vergangenen zehn Jahren, würde ich sagen. Es gibt gute Historikerinnen, die über die Verbindung António de Oliveira Salazar zu den Nazis forschen. Es gab damals aber auch Hilfe für geflüchtete jüdische Wissenschafter und Künstler, die per Transit-Visum nach Portugal reisen konnten, es gab auch keinen Antisemitismus. Man muss das schon differenzieren. In meinem nächsten Buch wird es darum gehen. In Portugal wird jetzt, habe ich das Gefühl, der Kolonialismus in der Literatur behandelt. Es war ja das europäische Land, das am längsten Kolonialmacht war. Bis 1974. Das wird jetzt langsam abgebildet, auch, weil Autorinnen aus den Kolonien darüber schreiben.