Armin Thurnher (74) ist eigentlich ein zurückhaltender Mensch. Man muss das betonen, weil Thurnher als Journalist und Publizist gerne in die Offensive geht. So auch im jüngsten Buch des "Falter"-Herausgebers, dessen Titel "Anstandslos" auch Programm ist: In dem Essay rechnet Thurnher mit der Ära von Sebastian Kurz ab, thematisiert aber auch die weit größere Frage einer erneuerten Öffentlichkeit, die das Gespräch zwischen Andersdenkenden wieder ermöglicht.
"Wiener Zeitung": Herr Thurnher, Sie sehnen sich nach "einer inneren Höflichkeit des Herzens", das sich nach John Locke "am allgemeinen Wohlwollen" orientiert. Verfügen Sie über eine solche innere Höflichkeit?
Armin Thurnher: Zumindest suche ich dieses menschliche Streben, einander auf der persönlichen Ebene halbwegs wohlwollend zu begegnen. Angesichts der österreichischen Politik ist das aber, das muss ich zugeben, nicht ganz leicht. Ich nehme an, Sie spielen darauf an, dass ich mit den Objekten meiner politischen Kritik nicht sehr wohlwollend umgehe. Das stimmt, das gelingt mir nicht, einfach weil mein Grant darüber zu groß ist, an der Nase herumgeführt oder, wie ich es im neuen Buch formuliere, regelrecht beschissen worden zu sein. Das ist kein subjektives Gefühl von mir, sondern ist zur Gewohnheit von Politik geworden, und durchaus nicht nur in Österreich.
Stolpern Sie nicht über das österreichische Paradoxon, dass Politik und Parteien von vielen in Grund und Boden kritisiert werden, das Land aber dennoch über eine herausragende Lebensqualität verfügt, Wohlstand und sozialen Sicherheit inklusive? Irgendetwas muss also die Politik richtig machen.
Ich bestreite ja nicht, dass wir in einer gut entwickelten Demokratie leben, aber dabei schwingen eben immer Strömungen mit, auf die wir nicht stolz sein können: die tiefsitzende Untertanenmentalität, die "Haberei" und Cliquenwirtschaft, auch die schlummernde Unzufriedenheit, die von den Rechten leicht zum Volkszorn aufgestachelt werden kann. Was mich vor allem stört: Mit der wirtschaftlichen und sozialen Reife, über die das Land verfügt, wäre noch viel mehr möglich. Manchmal blitzt dieses Potenzial auf, insbesondere in den Gemeinden und durchaus über alle Parteien hinweg.
Haben Medien mit der Fixierung auf die Bundespolitik, wo immer öfter Symbolpolitik inszeniert wird, nicht einen falschen Fokus?
Ganz so unbedeutend ist die Bundesebene nicht, weil hier schon wesentliche Gesetze gemacht werden, aber grundsätzlich haben Sie recht: Die lokale Ebene wird zu Unrecht oft vernachlässigt, obwohl auch hier noch viel Potenzial schlummert, das aber durch parteipolitische Vorgaben von oben, vom Land, behindert oder verhindert wird.

Walter Hämmerle im Gespräch mit Armin Thurnher.
- © LAURENT ZIEGLERDabei funktioniert Gemeindepolitik nach der Logik des Proporzes, der heute als antiquiert, ja sogar schädlich gilt, weil er alle relevanten Parteien, auch die, die man selbst ablehnt, in die Verantwortung einbindet.
Das hat etwas für sich, und hätte noch viel mehr, wenn es gelänge, mithilfe der sachpolitischen Auseinandersetzungen Öffentlichkeit herzustellen: Welche inhaltlichen Reibungspunkte gibt es in der Gemeinde, wer ist gegen, wer für den Bau eines Kanals, einer Kläranlage und mit welchen Argumenten? Wie wird all das, das von oben in die Gemeindepolitik hineingetragen wird - Ablehnung von Ausländern, obwohl es gar keine Ausländer gibt, Unterbringung von Flüchtlingen, etc. -, vor Ort aufgenommen und abgearbeitet? Etliche Menschen, mit denen ich am Land Kontakt habe, beobachten und bedauern es, dass durch solche Einflüsse von oben die gemeinsame Umsetzung von Projekten verloren geht.
Ist die Politik in der Lage, ein solches Gespräch zwischen entgegengesetzten Meinungen und Interessen wieder in Gang zu bringen?
Warum nicht, zumindest hat Politik ja einmal als Gespräch begonnen? Bei allen Gegensätzen lebt die Demokratie davon, dass die Auseinandersetzung relativ fair und offen ausgetragen werden kann. Wenn das halbwegs sichergestellt ist, dann sind die Menschen auch bereit, die Vertretung ihrer Interessen an die Politik zu delegieren; wenn der Eindruck einsteht, die da oben nehmen sich ohnehin, was sie wollen, dann bilden sich Wut und Ressentiment.
Sie bezeichnen sich als überzeugten Linken, der die Rechte massiv kritisiert. Ist für Sie rechts überhaupt eine legitime politische Haltung?
Es muss rote Linien geben, die Menschenrechte etwa. Wenn rechte Politik den Asylschutz abschaffen will, ist das nicht mehr legitim. Man kann durchaus über die Fortentwicklung dieser rechtlichen Bestimmungen diskutieren, aber man darf sie nicht zurücknehmen. Es stimmt, dass ein kleiner Staat wie Österreich, der mehr Menschen Schutz gewährt als die meisten anderen, nicht die globalen Asylprobleme bewältigen kann. Das Recht, Rechte zu haben, kann man nicht nur in einem 9-Millionen-Land ausüben und im Rest der Welt nicht. Aber Österreich könnte international eine andere Rolle spielen: Statt die eigene liberale Praxis mit illiberaler Rhetorik zu überdecken, könnten wir uns überlegen, welche Menschen mit welchen Qualifikationen wir für welche Aufgaben dringend brauchen. Das wird auch wirtschaftlich dringend geboten sein. Unser schlechtes Image als Zielland für qualifizierte Zuwanderung wird uns nachhaltig schaden, das müsste viel stärker als Argument gegen die rechten Migrationsverhinderer eingesetzt werden, jedenfalls würde ich mir das als Linker wünschen.
In "Anstandslos" reiben Sie sich vor allem an der Person von Sebastian Kurz, dem Sie autoritäres Streben unterstellen. Ist das nur Polemik?
Nein, das glaube ich wirklich. Die autoritären Persönlichkeiten, die wir heute sehen, sind Machtopportunisten, die zu allem bereit sind, wovon sie sich Macht versprechen. Würde ihnen eine liberale Haltung mehr nützen, wären sie liberal; weil das aber nicht der Fall ist, verhalten Sie sich autoritär. Das konnte man zu Beginn der Pandemie gut beobachten: Da war es aus staatsbürgerlicher Sicht geradezu geboten, autoritär aufzutreten, um den Leuten die Gefahren deutlich zu machen, doch dann hätte man den Schalter umlegen müssen in Richtung Aufklärung. Doch das autoritäre Gehabe war erst vorbei, als sich Kurz in der Unberechenbarkeit der Pandemie verhedderte. Was mich beim Ex-Kanzler so irritierte, war seine Entschlossenheit.
War die nicht inszeniert?
Das ist egal. Die Politik ist ein Spiel und die Politiker sind Staatsschauspieler. Meine Kritik ist, dass sie so schlechte Schauspieler sind . . .
Ich fürchte mich vor besseren . . .
In gewisser Weise ist das berechtigt. Ein guter Schauspieler kann nur dann eine Rolle glaubwürdig darstellen, wenn er über eine Persönlichkeit, Erfahrung und Leidenschaft verfügt. Wenn sich die Leidenschaft aber, wie es bei Kurz war, nur auf sich selbst und das eigene Vorankommen bezieht, ist das zu wenig. Viele Politiker scheitern daran, dass sie über keine glaubwürdige Erfahrung verfügen.
Vielleicht auch, weil der Job und alles, was damit verbunden ist, besser Qualifizierte abschreckt. Würden Sie Politiker sein wollen?
Nein. Der Verlust des Privatlebens, der Druck, ständig verfügbar zu sein, die Aufgabe der eigenen Individualität zugunsten der Parteidisziplin. . . Andererseits zwingt niemand die Politiker, ihren Job so zu leben. Ronald Reagan hat die USA von 9 bis 17 Uhr regiert und dann ging er heim zu seiner Nancy. Die Politik müsste sich gegen den Fluch der universellen Verfügbarkeit wehren und ihre Rolle anders ausfüllen. Warum sollte das nicht funktionieren? Wir müssen Politik wieder als Gespräch verstehen, als konstruktiven Dialog. Dagegen wirken die destruktiven Kräfte der sozialen Medien, aber auch diese werden ihren Plafond erreichen.
Was würde mit und in Österreich geschehen, wenn Herbert Kickl es zum Kanzler schaffen würde?
Ich denke nicht, dass ihm dies gelingen wird.
Und falls doch?
Dann würde es sicher einige Demonstrationen und Dauerkundgebungen geben. Die Praxis wäre wohl so, wie Kickl als Minister war: Teilweise patschert, teilweise hilflos intrigant, und die FPÖ würde schnell daran scheitern, dass ihr das Personal fehlt, um in der Regierung ordentliche Arbeit zu leisten. Sie würden zwar Schaden anrichten, aber die ÖVP, mit der die FPÖ wohl regiert, würde alles tun, den Schaden zu begrenzen und bei nächster Gelegenheit Neuwahlen anstreben. Dass braune Horden aufmarschieren, daran glaube ich nicht. Österreichs Demokratie und Zivilgesellschaft sind ausreichend stark und gefestigt.
Wirtschaftlich und publizistisch wäre der "Falter" wohl ein Profiteur.
Ja, aber man kann sich nicht alles wünschen, was dem "Falter" nützt.
Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege, von Armin Thurnher. Zsolnay Verlag, Wien 2023. 126 Seiten