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Die Zeit rennt der Politik davon

Von Brigitte Pechar

Politik

Pflegekosten: Ab 2020 kann es richtig teuer werden. | Experten uneins über künftige Finanzierung. | Menschen werden älter, altern aber auch gesünder.


Wien. Für den Krankheitsfall sind wir versichert. Die Pflege dagegen ressortiert bei der Sozialhilfe. Gesundheits- und Pflegebereich sind in Österreich zwei völlig getrennte Welten. Und das führt dazu, dass Menschen, die zum Beispiel durch einen Schlaganfall plötzlich zum Pflegefall werden, zwischen den Institutionen herumgeschoben werden: Das Krankenhaus ist für die Pflege nicht zuständig. Die Angehörigen zu Hause sind auf diesen Einschnitt in ihr Leben nicht vorbereitet, und ein Rehabilitationsplatz ist nicht sofort zu haben. In der Regel werden die pflegebedürftigen Menschen so lange im Krankenhaus behalten, bis ein Platz für sie gefunden ist - entweder in einem Heim oder zu Hause.

Aber nicht nur diese Schnittstelle im Krankenhaus zeigt, wie problematisch die Trennung der beiden Bereiche ist. Beide Felder stehen vor einer grundsätzlichen Neuorganisation. Bei der Gesundheit könnte es - jedenfalls sieht es erstmals nach Jahrzehnten danach aus - bis 2013 so weit sein. Aber auch die Finanzierung der Pflege soll bis Ende 2012 neu geregelt werden. Sozialminister Rudolf Hundstorfer hat dazu eine Arbeitsgruppe einberufen, die sich am 23. September das erste Mal treffen wird. Hintergrund ist, dass ab 2015 der neue Finanzausgleich in Kraft tritt, der bereits die neue Finanzierung abbilden soll.

Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Darüber, woher das Geld kommen soll, scheiden sich im Moment noch die Geister. So meint etwa die stellvertretende ÖVP-Seniorenobfrau Ingrid Korosec, dass es ausreichen würde, Synergiepotenziale im Gesundheitssystem zu heben. Caritas-Wien Direktor Michael Landau kann sich vorstellen, eine veränderte Erbschaftssteuer zweckgebunden für die Pflege einzuheben, er unterstützt aber auch die Forderung von Finanzstaatssekretär Andreas Schieder, die Höchstbeitragsgrundlage für die Krankenversicherung aufzuheben, um davon für die Pflege etwas abzuzweigen.

SPÖ-Pensionistenverbands-Präsident Karl Blecha wiederum ist für eine offene Diskussion über zweckgebundene Vermögensbesteuerung, da in Österreich nur 1,4 Prozent des Steueraufkommens aus Vermögenssteuern komme. Eine andere Möglichkeit, die Pflege finanziell abzusichern, wäre eine Pflegeversicherung. Der Nachteil: Dies erhöht wieder die Lohnnebenkosten. Sozialminister Hundstorfer präferiert daher ein steuerfinanziertes System.

Worauf sich die Arbeitsgruppe - bestehend aus Vertretern des Sozial- und Finanzministeriums, der Länder, von Städte- und Gemeindebund, des Seniorenrats und des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger und Interessenvertreter - letztendlich einigt, bleibt abzuwarten.

Der gesamte öffentliche Pflegeaufwand liegt derzeit bei 3,9 Milliarden Euro (1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Laut Berechnungen des Instituts für höhere Studien (IHS) könnte er im Jahr 2020 schon zwischen 5,8 und 8,3 Milliarden Euro liegen. Gesundheitsökonom Thomas Czypionka geht von einem Mittelwert aus den beiden Zahlen aus. Weder die 5,8 noch die 8,8 Milliarden Euro seien realistisch. Aber die Steigerung von 4,5 Prozent (niedrigste Annahme) pro Jahr oder 8,3 Prozent pro Jahr (höchster Wert) bei den Pflegeausgaben bringe vor allem die Gemeinden in Bedrängnis, weil diese für Sozialleistungen und Pflegeeinrichtungen zuständig seien.

Unsichere Kostenentwicklung

Jetzt setzen sich die Ausgaben von 3,9 Milliarden Euro so zusammen: 2,4 Milliarden Pflegegeld (davon 1,9 Milliarden Bund, 500 Millionen Länder), 1,5 Milliarden Euro zahlen die Länder für Sachleistungen (Heime, mobile Dienste) und rund 550 Millionen Euro für den Behindertenbereich. Laut Länderberechnungen steigen die Aufwendungen für die Bundesländer bis 2020 um 600 Millionen Euro. Allein für heuer haben die Länder Kostensteigerungen zwischen sechs und 13 Prozent berechnet. Und das, obwohl nur rund 65.000 Personen in Heimen versorgt werden. Rund 365.000 Personen (85 Prozent) werden zu Hause betreut. Die Hilfsorganisationen verweisen darauf, dass bis 2020 ein Mehrbedarf von 25 Prozent an stationären Plätzen besteht. Immerhin wäre dies eine geringere Steigerung, rechnen die Länder doch mit einem Anstieg um ein Drittel.

Um den Kostenanstieg der Länder und Gemeinden für die Pflege abzudecken, wurde ein Pflegefonds eingerichtet, der bis Ende 2014 wirksam ist. Der im Sozialministerium angesiedelte Fonds wird heuer mit 100 Millionen Euro dotiert, 2012 steigt der Betrag auf 150 Millionen, im Jahr 2013 auf 200 Millionen und im Jahr 2014 auf 235 Millionen. Insgesamt sind also Mittel in der Höhe von 685 Millionen Euro vorgesehen. Die Dotierung erfolgt zu zwei Dritteln durch den Bund und zu einem Drittel durch die Länder.

Gleichzeitig soll die Datenlage verbessert werden. Eine von der Statistik Austria einzurichtende Datenbank soll einen genauen Überblick über die in Österreich gewährten Pflegeleistungen ermöglichen.

Denn derzeit scheiden sich die Geister, ob die Pflegeausgaben wegen der immer älter werdenden Gesellschaft tatsächlich so explosionsartig ansteigen, oder ob die Menschen zwar älter werden, aber auch länger gesund bleiben.

Bevölkerungswissenschafter Rainer Münz weist auf zwei gegenläufige Trends hin. Einerseits würde sich die Zahl der über 80-Jährigen bis 2050 auf eine Million verdreifachen, aber die Menschen blieben länger gesund. Der Pflegebedarf liegt vor allem in den letzten fünf Lebensjahren vor. Allerdings, so Münz, würden die heute 80-Jährigen noch großteils von Angehörigen betreut, was die öffentlichen Budgets entlaste. Die über 80-Jährigen in 30 Jahren seien aber häufig geschieden und kinderlos und würden damit vermutlich nicht mehr von Angehörigen betreut werden können.