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Sozialstaat ist nicht für alle da

Von Stefan Beig

Politik
Jenny Phillimore fordert Ankunftszentren in England für neue Zuwanderer.

In England fühlen sich Verantwortliche im Sozialwesen teils überfordert.


Wien. Der Sozialstaat gilt als europäische Errungenschaft. Keiner will ihn aufgeben, doch die Zuwanderung nach Europa stellt ihn vor neue Fragen. Die Bereitschaft, auch Migranten Zugang zu sozialen Dienstleistungen zu gewähren, ist unterschiedlich. Das merkt man auch überdeutlich in einer Stadt wie Birmingham in England, in der die Forscherin Jenny Phillimore in den Jahren 2007 bis 2010 Neuzuwanderer aus 187 verschiedenen Nationen zählte.

"Fast jedes Land der Welt ist in Birmingham vertreten", erzählt sie der "Wiener Zeitung". Die Situation der Immigranten ist je nach Herkunft verschieden. Einige kommen aus den ehemaligen britischen Kolonien Indien, Pakistan, Bangladesch. Sie haben bereits etablierte Communitys in England. In den 70er und 80er Jahren war dann die Zeit des familiären Nachzugs. Mit den 90er Jahren, im Zuge des Jugoslawienkriegs, kamen Flüchtlinge spontan - auch außerhalb der bestehenden Flüchtlingsprogramme. Mittlerweile bestehen die Zuwanderer aus Studenten, Wirtschaftsflüchtlingen, Familienangehörigen, Asylwerbern und illegalen Zuwanderern. Sie alle zusammen haben unterschiedliche Rechte auf Sozialleistungen, weil ihr Status jeweils verschieden ist.

Jenny Philimore lehrt am Centre for Urban and Regional Studies der Universität von Birmingham. Sie war am Montag eine der Vortragenden am Bruno Kreisky Forum, das sich dieser Tage mit Migration und Sozialstaat befasst. Restriktive Maßnahmen würden von der Politik damit begründet, dass England wegen seiner attraktiven sozialen Dienstleistungen gerne von Zuwanderern aufgesucht werde, berichtet Philimore. "Zuwanderung wird stark politisiert."

Für den Staat macht es einen Unterschied, ob jemand aus Bulgarien und Rumänien oder von außerhalb der EU kommt, ob es sich um Studenten, Familienzusammenführungen, Asylanten oder Flüchtlinge handelt. Theoretisch sollte der Staat darüber befinden, welchen Status ein Migrant hat. Aber eben nur in der Theorie. "Der Staat hat die Verantwortung zunehmend an die zuständigen Personen im Sozialwesen abgegeben."

Doch die Einschätzung des Status eines Migranten sei sehr komplex. "Er bringt die Dokumente aus seinem jeweiligen Herkunftsland mit - und die sind alle verschieden und schwer zu verstehen", erzählt die Migrationsforscherin. Arbeitgeber, Ärzte und Anbieter von Wohnungen müssten in der Regel darüber befinden, welchen Status ein Migrant hat und auf welche Dienstleistungen er daher Rechte hat. Auf Personen in sozialen Dienstleistungen laste deshalb großer Druck. "Sie sind nicht dafür ausgebildet festzustellen, welche Dokumente korrekt sind." Den Verantwortlichen in der öffentlichen Wohlfahrt drohen hohe Strafen, wenn sie versehentlich einen illegalen Migranten anstellen.

"Birmingham ist nicht einmalig", meint Phillimore. Auch anderen Städten Englands herrschten ähnliche Zustände. Die fordert Ankunftszentren, in denen ausgebildete Experten mit den nötigen Sprachkenntnissen für die Neuzuwanderer zuständig sind und ihren Status bestimmen. "Es fehlt ein Zertifikat, das den Status eines Migranten angibt."

Die Gewerkschaften tun kaum etwas für sozial schwache Migranten. Das war ein Grundtenor auf der Tagung. "Die Gewerkschaften schweigen", meint etwa der niederländische Soziologe Paul Scheffer. Der Grund: 40 Prozent ihrer Mitglieder wählen Geert Wilders.

Auch Konflikt der Kulturen?

Scheffer betonte in seinem Vortrag, man müsse neben den sozialen Aspekten der Zuwanderung auch die kulturellen berücksichtigen, denn die führten ebenfalls zu Spannungen. "Migration fördert eine konservative Interpretation der eigenen Herkunft", betonte er. Oft bleiben Migranten innerlich dem Herkunftsland ihrer Vergangenheit verbunden. Auswanderer aus den Niederlanden seien den Niederlanden der 50er Jahre verhaftet. Gleiches gelte für Zuwanderer aus Marokko und der Türkei. "Eine marokkanische Mutter erzählte mir, dass sie Angst hat, ihre Kinder an diese Gesellschaft zu verlieren."

Die Konflikt brächen bei der nächsten Generation auf. Spätestens mit den Kindern werde klar, dass der Aufenthalt in der neuen Heimat kein vorübergehender ist. Die neuen Konflikte mit der Mehrheitsbevölkerung wertet Scheffer nicht nur negativ: "Es gibt keine Immigration ohne Konflikte. Konflikte sind ein Zeichen wachsender Integration. Die jetzigen Konflikte in Europa sind ein Zeichen des Endes der Segregation vorbei ist."

Vergessen werde oft, wie konfliktbeladen die Zuwandererwellen in den USA waren. Umfragen würden ergeben, dass selbst in den sich als Zuwanderungsland bekennenden Vereinigten Staaten die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Neuzuwanderung genauso restriktiv sind wie in Europa. Kulturelle Konflikte habe es dort ebenfalls gegeben, und sie seien jenen ähnlich, die muslimische Jugendliche heute in Europa erleben. "Katholische Zuwanderer stießen in den USA bei den Protestanten auf Ablehnung. Sie würden niemals loyal zum Staat sein, sondern immer nur gegenüber Rom, hieß es." Die zweite Generation der Muslime stehe heute vor der Herausforderung, ihre eigene Identität losgelöst von Traditionen neu zu erfinden.

Nach wie vor gebe es auch kulturelle Konflikte, etwa wenn der Schulunterricht über den Holocaust, die Evolution oder Oscar Wilde auf Ablehnung bei den Schülern stößt. "Man soll über all diese Spannungen offen reden", meint Phillimore. Der Multikulturalismus habe es verabsäumt, eine Perspektive zur Lösung dieser Konflikte zu entwickeln. Ein wichtiges Faktum sei die Reziprozität: "Alle sind gleich und bekommen die gleiche Behandlung." Das gelte auch für Homosexuelle und Ungläubige. Über Gesetze sei dies aber nicht erzwingbar.