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Wer sind Europas Dschihadisten?

Von Stefan Beig

Politik

Politischer Islam hat dem Image der Muslime geschadet.


Wien. Dschihadisten und Vertreter des politischen Islam haben in Europa in den letzten zehn Jahren vor allem eins erreicht: Aufmerksamkeit; die Ersten durch Terroranschläge, die Zweiten zuletzt wegen ihrer Beteiligung an Wahlen in Tunesien und Ägypten. In der Bevölkerung herrscht nach wie vor Unklarheit über die Gefährlichkeit der Islamisten für Europa. Beide Gruppen sind nicht repräsentativ für Europas Muslime. Doch was wissen wir eigentlich über sie? Kürzlich widmete sich eine Tagung an der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin dem Thema.

Eher bescheiden sei die Bilanz des dschihadistischen Terrors in Europa, betonte Edwin Bakker vom Centre for Terrorism and Counter Terrorism der Universität Leiden. 65 "dschihadistische Vorfälle" haben sich zwischen 2001 und 2010 in den EU-Staaten ereignet. Darunter waren 30 vereitelte Terrorattentate. Einige Attentate endeten tödlich - siehe Madrid, London, Theo van Gogh, Glasgow und Stockholm. An die 40 Netzwerke und 343 "dschihadistische Terroristen" konnten ausfindig gemacht werden. "Diese Gesamtzahl ist erfreulicherweise sehr gering", hielt Bakker fest. Die meisten terroristischen Vorfälle in Europa gingen auf das Konto des Separatismus.

Mittlerweile wurde ermittelt, ob es Gemeinsamkeiten in den Biographien der Attentäter gibt. "Den typischen dschihadistischen Terroristen gibt es in Europa nicht", erklärte Bakker. Alter, Bildung, Herkunft sind verschieden. Die meisten sind aber um die 27 Jahre alt und fast alle sind männlich; mehr als die Hälfte wuchs in Europa auf, viele stammen aus nordafrikanischen oder pakistanischen Familien. Oft gehören sie eher ärmeren Schichten an, und relativ viele waren schon vorher in andere Verbrechen verwickelt.

Die meisten Angehörigen innerhalb eines Netzwerks sind gleich alt und stammen aus der gleichen Gegend. Viele waren miteinander verwandt oder schon vor ihrer Radikalisierung miteinander befreundet. Teils radikalisierten sie sich gemeinsam. Vom globalen Netzwerk Al-Kaida agierten die europäischen Zellen großteils unabhängig.

Dschihadisten greifen bedenkenlos normale Bürger an, nicht nur Polizisten und Politiker, betonte Edwin Bakker im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Dies sei einer der Gründe für die große Angst, die sie in Europa erzeugten. Hinzu menge sich eine diffuse Angst vor Islamisierung und einer Machtübernahme der Muslime. Die Anti-Islam-Debatte habe die Lage erschwert und verkleinere den Raum für Politik, Polizei und Geheimdienst. Beispielsweise sei es riskant, verhafteten Dschihadisten die Chance auf ein neues Leben zu geben. Sobald Geert Wilders und Co. davon erfahren, gebe es den großen Aufschrei. Mittlerweile ist darüber hinaus der rechtsextreme Terrorismus gefährlicher geworden, wie etwa der Oslo-Attentäter zeigte.

Umstrittene Rolle des politischen Islam

Schuld am negativen Image der Muslime in der Öffentlichkeit ist für James Brandon von der Quilliam Foundation in London auch der politische Islam. In England seien lange Zeit maßgebliche offizielle islamische Ansprechpartner Vertreter des politischen Islam gewesen, die nicht repräsentativ für die meisten Muslime waren. Dadurch sei viel Schaden entstanden, etwa nach den Terroranschlägen in London. Die Islamisten "haben sich nur ungern zu den Terrorattentaten geäußert oder sie teils sogar verteidigt. Dadurch ist die Angst vor Muslimen in England gewachsen." Die Mehrheit der Muslime sei entmachtet gewesen durch Repräsentanten, die für sie gesprochen haben.

Die Quilliam Foundation ist ein anti-islamistischer Think Tank, der von Aussteigern aus der islamistischen Szene gegründet wurde. Die wichtigsten islamistischen Vereinigungen in England kommen aus dem Umfeld der Muslimbrüder und der pakistanischen Partei Jamaat-e-Islami, erzählte Brandon. Sie dominierten das Bild des Islam in der Öffentlichkeit besonders in den 90er Jahren. Starken Zulauf hatte zu der Zeit in England auch Hizb-ut-Tahrir, eine islamistische Partei, die ein Kalifat in der islamischen Welt anstrebt. Damals hätten viele Pakistaner unter Identitätsproblemen gelitten. Die Ideologie von Hizb-ut-Tahrir habe die Muslime als Block dargestellt, der von den Nicht-Muslimen unterdrückt werde, sagt Brandon.

Einflussreich seien diese Gruppierungen "nicht durch ihre Zahl gewesen, sondern durch die Resonanz, die sie in der Gesellschaft hatten." Von insgesamt 800 Moscheen in Großbritannien gehörten lediglich vier zu den Muslimbrüdern.

In Deutschland sei der "Islamismus - noch - ein Minderheitenphänomen, aber er sei eine reale Gefahr für unsere Demokratie", schreibt Johannes Kandel, Organisator der Tagung in seinem Buch "Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität". Der Islamismus plane hier die Errichtung eines Scharia-Staates, sei es schrittweise oder revolutionär-militant. Der Kampf gegen den Islamismus könne aber nur mit den Muslimen, "nicht gegen sie gewonnen werden."

Mit der letzten Einschätzung Kandels stimmen Bakker und Brandon überein. Das Ausmaß der islamistischen Gefahr scheinen sie aber aus heutiger Sicht geringer einzuschätzen. In England hätten Muslime in den letzten Jahren vermehrt angefangen, "sich als normale Bürger einzubringen, nicht als Vertreter der Muslime", berichtet James Brandon. "Andere Gruppen begannen sich zu organisieren und machten deutlich, dass die Islamisten nicht die Mehrheit vertreten." Auch die Islamisten seien moderater geworden und verteidigten mittlerweile die Demokratie, teils auch die Säkularität. Gewisse Ängste seien daher falsch gewesen. "Sie verändern nicht die Gesellschaft, die Gesellschaft verändert sie."

Herausforderungen gebe es nach wie vor: "Bei Muslimen wie Nicht-Muslimen besteht noch immer der Eindruck: Je säkularer Muslime sind, desto weniger islamisch sind sie", betont Brandon. Gegenüber der "Wiener Zeitung" lobt er die BBC, die sich verstärkt um muslimische Moderatoren bemüht hat. Muslime müssten als Bürger angesehen werden. Wichtig sei in Europa die Entwicklung eines gemeinsamen Narrativs, in dem sich alle - Muslime wie Nicht-Muslime - wiederfinden.