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Germanisierung statt Multikulti

Von Alexia Weiss

Politik

Ohne Bewusstseinswandel wird sich die Schule nicht verändern.


Wien. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität sind an österreichischen Kindergärten und Schulen die Realität. Und dennoch wird weiterhin vielfach so getan, als ob es eine einsprachige Gesellschaft gebe, beklagen namhafte Sprachexperten. Solange allerdings diese Fiktion aufrechterhalten wird, solange Multikulturalität nicht als Auftrag und Aufforderung verstanden wird, Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlicher Herkunft herzustellen, "wird es auch keine nachhaltigen Auswirkungen für das Bildungswesen geben können", meint etwa der Slawist Gero Fischer von der Universität Wien.

Auch Elfie Fleck vom Referat für Interkulturelles Lernen im Bildungsministerium hält den "Habitus der Schule" für "immer noch monolingual". Sie geht sogar noch einen Schritt weiter: In den vergangenen Jahren habe "eine beispiellose Germanisierungsoffensive eingesetzt, die in der gesetzlich verankerten Forderung an Drittstaatsangehörige, bereits vor Zuzug Deutschkenntnisse nachzuweisen, gipfelt".

Der nötige Bewusstseinswandel scheint allerdings noch in weiter Ferne. Die Romanistin Susanna Buttaroni hat sich angesehen, was sich von 2002 bis 2011 im Bereich der Vermittlung von Mehrsprachigkeit in den Kindergärten getan hat. Ihr ernüchternder Befund: Sprachförderung wird zumeist nur auf den Deutscherwerb bezogen. Die Erstsprache der Kinder, so sie nicht Deutsch ist, wird nur selten und im Rahmen von meist privaten Initiativen vermittelt. Und immer noch gibt es keine adäquate, flächendeckende Aus- und Fortbildung für Kindergartenpädagoginnen im Themenfeld Mehrsprachigkeit.

Dem gegenüber stehen Bemühungen um Zweisprachigkeit mit prestigebehafteten Sprachen, vor allem in der Kombination Englisch-Deutsch, die zum Beispiel vom großen Wiener Kindergartenträger "Kind in Wien" forciert wird. Für Buttaroni tut sich hier eine "Kluft zwischen prestigereichen und prestigearmen Sprachen" auf - ein Befund, zu dem heimische Sprachexperten bereits 2002 gekommen sind. Auch hier heißt es also: nichts Neues zu berichten. Fazit der Linguistin: So wird es nichts mit der im aktuellen Regierungsprogramm angestrebten "Gleichheit der Bildungschancen für alle Kinder".

Auch das Schulsystem hält für mehrsprachige Kinder noch immer Stolpersteine bereit. Oft sei daran aber nicht die Bildungspolitik, sondern die Haltung an den Schulen vor Ort schuld, meint Fleck. Beispiel Einschulung: An den Schulen sei die Meinung weit verbreitet, Kinder, die noch nicht ausreichend Deutsch beherrschen, sollten in eine Vorschulklasse gehen. Die Statistik spricht hier eine klare Sprache: Während 23,2 Prozent der Volksschüler 2009/10 eine andere Erstsprache als Deutsch hatten, waren es unter den Vorschülern 49 Prozent.

Wer zu wenig Deutsch kann, landet in der Sonderschule

Diese Praxis steht allerdings im Gegensatz zu der vom Bildungsministerium vorgegebenen Linie. Dieses hielt in einer Stellungnahme an das Kanzleramt zu diesem Thema 2010 fest: "Eine noch nicht ausreichende Beherrschung der Unterrichtssprache Deutsch ist nicht mit mangelnder Schulreife gleichzusetzen." Diese Kinder sollten sehr wohl in die erste Klasse aufgenommen werden - als außerordentliche Schüler. Begründung: Man könne Kindern, nur weil sie die Unterrichtssprache nicht ausreichend beherrschen, ja nicht unterstellen, entwicklungsverzögert zu sein.

Zweites Beispiel: die Zuweisung von Schülern, die nicht oder schlecht Deutsch beherrschen, an Sonderschulen. Auch diese häufig geübte Praxis entspricht demnach nicht den Vorgaben des Ministeriums. "Das bloße Nichtbeherrschen der Unterrichtssprache darf keinesfalls als Kriterium für die Feststellung des sonderpägagogischen Förderbedarfs herangezogen werden", heißt es dazu in einem Rundschreiben des Bildungsressorts aus dem Jahr 2008.

Beispiel drei: die Leistungsbeurteilung. Immer noch orientiert sich diese an einer muttersprachlichen Norm. Kinder, die nicht mehr als außerordentliche Schüler geführt werden, werden also nach den gleichen Maßstäben beurteilt wie Deutsch-Muttersprachler. Fazit Flecks: Hier führt die formale Gleichbehandlung von Schülern mit ungleichen Voraussetzungen zu einer Ungleichbehandlung. Das Problem sei sowohl Schulpraktikern als auch der Schulaufsicht bekannt. Allerdings: In diesem Punkt zeichnet sich eine Änderung ab. Fleck zitiert hier aus einem internen Arbeitspapier des Bildungsministeriums: "Um fremdsprachigen Lernenden ein allmähliches Hineinwachsen in die Unterrichtssprache zu ermöglichen, um ihre Motivation zu stärken und um ihre Leistungen realistisch zu beurteilen, sollte ihre besondere Sprachlernsituation auch in der Leistungsbeurteilungsverordnung ihren Niederschlag finden."

Fleck appelliert: Man sollte sich in Österreich endlich von der wissenschaftlich nicht haltbaren Vorstellung von miteinander konkurrierenden Sprachen verabschieden. Es heiße eben nicht: Deutsch oder Erstsprache. Ein Mensch kann vielmehr in mehr als einer Sprache leben.

Das zeigt der Lebensraum Schule heute in Österreich nur allzu deutlich auf. 2009/10 besuchten österreichweit 201.397 Kinder und Jugendliche die Schule, die eine andere Erstsprache als Deutsch haben, was einem Anteil von 17,7 Prozent entspricht. An den Wiener Pflichtschulen betrug ihr Anteil satte 55,3 Prozent. Nicht alle dieser Schüler haben übrigens nur eine andere Erstsprache als Deutsch, sondern wachsen bereits in der Familie mehrsprachig auf. Diesem Umstand wird allerdings erst seit dem Schuljahr 2008/09 Rechnung getragen. Bei der Einschulung wird nun nicht mehr nach der "Muttersprache" gefragt, sondern nach den "im Alltag gebrauchten Sprachen".