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"Kein Sparen auf dem Rücken der Ärmsten"

Von Heiner Boberski

Politik

Der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau warnt vor einer Neiddebatte.


"Wiener Zeitung": Sehen Sie aufgrund der aktuellen Krise gröbere soziale Folgen als früher? Wird es sozial kälter in Österreich?Michael Landau: Wir spüren den steigenden Druck auf die Menschen an den Rändern. Im Caritas-Betreuungszentrum Gruft haben wir im Vorjahr etwa 94.000 Mahlzeiten ausgegeben, vor zehn Jahren waren es etwa 58.000. Das ist ein beträchtlicher Zuwachs. Ein Drittel der Menschen, die dorthin kommen, haben noch eine Wohnung, können sich aber das Essen nicht mehr leisten. 313.000 Menschen wohnen in Österreich in Wohnungen, die sie nicht angemessen warmhalten können. Das heißt, es ist für viele Menschen um ein ganzes Stück kälter geworden. Ein letztes Beispiel: Im Zentrum Leo (Lebensmittel und Orientierung), wo wir Menschen mit Lebensmitteln versorgen, geben wir zurzeit an Bedürftige 6,4 Tonnen pro Woche aus. Das sind Zahlen, die uns sehr nachdenklich stimmen. Das gleiche Bild ist auch in der Sozialberatung zu sehen. Ein Drittel der Menschen, die sich Hilfe suchend an die Caritas-Stellen wenden, haben nach Abzug der Fixkosten weniger als vier Euro pro Tag für Nahrung, Kleidung und Hygieneartikel. Früher sind Menschen zur Caritas gekommen, um Unterstützung für den Schulskikurs zu bekommen, heute kommen sie, weil sie vor der Frage stehen, ob sie heizen oder essen sollen.

Ist das eine schleichende Entwicklung oder gab es Schübe, parallel zu den wirtschaftlichen Paukenschlägen?

Einerseits ist eine gewisse kontinuierliche Entwicklung da, anderseits aber hat seit 2008, 2009 der Druck noch einmal zugenommen. Dabei muss man sagen, dass Österreich an sich einen funktionierenden Sozialstaat hat, ohne Pensionen und Sozialleistungen wie etwa die Familienbeihilfe würde die Armutsgefährdung noch deutlich höher liegen. Was man sagen kann, ist: Gerade im Blick auf die kommenden Jahre ist das gleiche Engagement für eine Armutsbremse gefordert, wie es jetzt für eine Schuldenbremse aufgewendet wird.

Würden Sie für diese Entwicklung zu mehr Armut jemandem eine Schuld oder eine moralische Verantwortung zuweisen?

Die Wirtschaftskrise hat ihren Anfang nicht in Österreich genommen, jetzt zu sagen, da wären die österreichischen Banken Verursacher, ist sicher zu kurz gegriffen. Klar ist aber auch, dass die aktuelle Wirtschaftskrise sehr viel mit Spekulation und Gier zu tun hat, insbesondere auch in den Vereinigten Staaten, wo sie begonnen hat, und auch eine grundsätzliche Anfrage nach der sozialen Verantwortung mit sich bringt. Gerade in der aktuellen Krise wird es ganz entscheidend sein, dass nicht auf dem Rücken der sozial Schwächsten gespart wird, die weder etwas für die Wirtschaftskrise können noch von dieser Krise im Vorfeld profitiert haben. Wer bei den sozial Schwächsten spart, stürzt Menschen noch mehr in die Verzweiflung und gefährdet den sozialen Frieden in Österreich.

Lassen die heutigen sozialen Probleme die Menschen mehr zusammenrücken oder werden verstärkt die Ellbogen eingesetzt?

Da sind wir sozusagen an einer Wegkreuzung. Es gibt auch in unserem Land eine hohe Bereitschaft zur Solidarität, wir sehen das etwa im Bereich der Freiwilligenarbeit oder der Young Caritas, der Jugendcaritas, wo wir für das Projekt Leo vor Weihnachten einen Aufruf gemacht haben, Lebensmittel zu sammeln, wo sich 13.000 Schülerinnen und Schüler beteiligt haben. Die Gefahr, die ich sehe, ist, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Wovor ich warne, ist eine Neiddebatte, und zwar sowohl am oberen als auch am unteren Ende der Gesellschaft. Mein Eindruck ist, dass die zum Teil vom Zaun gebrochene Sozialschmarotzerdebatte eine ideologische Keule derer ist, die sich vor einer Gerechtigkeitsdiskussion fürchten.

Welche Gruppen sind besonders armutsgefährdet?

In besonderer Weise armutsgefährdet sind Arbeitslose, vor allem langzeitarbeitslose Menschen, Alleinerzieherinnen, kinderreiche einkommensschwache Familien, Mindestpensionisten und Familien mit Migrationshintergrund. Ein Faktum ist: Es gibt derzeit nicht genug Arbeit für jene, die Arbeit suchen und Arbeit brauchen. Um den Sozialstaat armutsfest und zukunftstauglich auszugestalten, sind drei Dinge unerlässlich: Arbeit, von der man leben kann, eine Mindestsicherung, die diesen Namen verdient, und ein fairer Zugang zu sozialen Dienstleistungen wie Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheit. Die notwendige Budgetkonsolidierung wird nur mit einem intelligenten Mix aus Einsparungen und Mehreinnahmen zu bewältigen sein. Zur Armutsbekämpfung werden aber auch Investitionen nötig sein. Ein wichtiger Punkt: Parallel zur Schuldenbremse muss eine Sozialverträglichkeitsprüfung eingeführt werden, analog zur Umweltverträglichkeitsprüfung, die es heute schon gibt. Das heißt: Jede einzelne Maßnahme zur Budgetkonsolidierung ist dahingehend zu überprüfen, wie sie sich auf die sozial Schwächsten auswirkt.

Zur Person

Michael Landau, geboren 1960 in Wien, erwarb mit Auszeichnung Doktorate der Chemie (1988) und des Kirchenrechts (1999). 1992 wurde er in Rom zum Priester geweiht, seit 1995 ist er Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien. 2006 wurde er zum Monsignore ernannt.