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Selbständiges Arbeiten statt Drill

Von Von Alexandra Grass

Politik
Mit Montessori-Material wie den goldenen Perlen wird die Mathematik begreifbar gemacht. Foto: Grass

Entdecken und Forschen ist besser als nur Hören und Sehen. | Schulangst hindert das Gehirn am Lernen, gute Laune macht kreativ.


Zwei Schüler widmen sich der Mathematik. Sie sitzen auf dem Fußboden, um sie herum tausende goldener Perlen - in Form von Würfeln, Platten, Reihen und Einzelkügelchen. Es gilt, die Zahl 1566 sichtbar zu machen. Die Schüler legen einen Kubus mit tausend Perlen bestückt, fünf Hunderter-Platten, sechs Zehner-Perlenreihen und sechs einzelne Kugeln vor sich hin. Auf diese Art und Weise können die Kinder Zahlenmengen oder Aufgaben visuell und durch Anfassen und Nachzählen begreifen. In der Reformpädagogik - hier mit Montessori-Material - werden etwa Zahlen und Rechenvorgänge auf ihre elementare Bedeutung reduziert und begreifbar gemacht.

Es gilt beim Lernen nicht das Prinzip des Frontalunterrichts, sondern jenes der Arbeit. "Entdecken und Forschen sind besser als nur Hören und Sehen, denn dann sind alle Lernkanäle angesprochen", erklärt der Reformpädagoge und Erziehungswissenschafter Harald Eichelberger. Er zitiert Maria Montessori, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Konzepte für Lernende und Lehrende entwickelte: "Die Hände machen uns intelligent."

Auch Ruth Laimer, Schulleiterin der reformpädagogischen Privatschule "Schulwerkstatt" in Ebreichsdorf, weiß aus der Praxis, dass mit Modellen, bei denen alle Sinne angesprochen werden, bessere Lernerfolge erzielt werden können. Die Schüler sind motivierter, selbständiger und mit Freude bei der Sache. Und genau darum geht es in der Reformpädagogik: um das vorwiegend selbständige und selbstbestimmte Arbeiten des Kindes im Gegensatz zur Drillschule. Das Anliegen besteht darin, dass Kinder in eine Schule gehen sollen, in der sie angstfrei lernen können.

Bei guter Laune lernen
Dass negative Emotionen das Gehirn am Lernen hindern, betont der deutsche Hirnforscher Manfred Spitzer. Denn Angst bewirkt, dass Menschen nicht kreativ sind, in der Lösungsfindung versagen und in ihrem eigenen Potenzial gehemmt sind. "Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muss eines stimmen: die emotionale Atmosphäre beim Lernen. Nur wer bei guter Laune lernt, wird das Gelernte später zum Problemlösen verwenden können", erklärt Spitzer.

In der Reformpädagogik wird nach fixen Kriterien ein Schulkonzept geformt, das den gesellschaftlichen Anforderungen seiner Zeit entspricht. Sie setzt sich aus vier großen Modellen zusammen: Montessori, Dalton-Plan, Jena-Plan und Freinet (siehe Wissen). Wie die Pisa-Studien zeigen, kommen sie vor allem in Skandinavien, den Niederlanden, Deutschland, den USA oder Japan sehr erfolgreich zum Einsatz, erklärt Eichelberger. In Europa sind zehn Prozent aller Schulen reformpädagogisch gestaltet. In Österreich sind es hauptsächlich Privatschulen, die sich dieser Modelle bedienen. Doch auch im öffentlichen Bereich finden sich immer wieder ambitionierte Pädagogen und Direktoren, die reformpädagogische Konzepte in die Regelschule einfließen lassen.

Grundsätze sind die Individualisierung des Lernens, Arbeiten in altersgemischten Gruppen, in vorbereiteter Umgebung und nach einem individuellen Arbeitsplan (ohne Stundenplan), ein individuelles Rückmeldesystem ohne Noten und eine Einteilung nach Modulen unter Berücksichtigung des Fortschritts und der Begabung der Schüler. Die Pädagogik ist darauf bedacht, dass sich das Individuum zu der Persönlichkeit entwickeln kann, die in ihm steckt. Die Schüler werden fähig zur Initiative, zur Gemeinschaft, zur ethischen Einschätzung und entwickeln Leistungsmut.

Die Lehrer sind aufgefordert, die Kinder zu führen, sie anzuleiten und als Menschen zu akzeptieren, sowie Fairness walten zu lassen. Es gilt darüber nachzudenken, welche Bedingungen man Kindern zur Verfügung stellt, um selbstbestimmt und mit Selbstverantwortung lernen zu können. Denn "eine gestärkte Persönlichkeit ist die beste Vorbereitung auf das Leben", so Eichelberger.

Seitens der Gehirnforschung wird dem Bestreben Vorzug gegeben, nicht Fakten zu lehren, sondern Kompetenzen - etwa Kulturtechniken oder Problemlösestrategien. Dabei dürfe nicht übersehen werden, dass das Allgemeine an Beispielen gelernt wird und nicht am sturen Auswendiglernen von Regeln. "Das Üben an Beispielen muss ein wichtiger Bestandteil des schulischen Alltags sein. Auf Fakten, die nicht als Beispiele für einen allgemeinen Zusammenhang stehen können, kann man verzichten", erklärt Spitzer.

Chance für Migranten
Eichelberger sieht in der Reformpädagogik auch eine große Chance für Migranten. Der Unterricht ist mehr an Materialien als an der Sprache orientiert und eröffnet damit neue Perspektiven.

Hinsichtlich der oft geäußerten Sorge, dass sich Kinder aus reformpädagogischen Schulen mit dem Umstieg in eine traditionelle Regelschule schwer tun könnten, betont der Wissenschafter: "Einzige Schwierigkeit ist der Schulfrust der Kinder, weil sie nicht mehr nach ihren Entwicklungsbedürfnissen lernen dürfen. Diesen Frust müssen sie überwinden." Die Kinder würden einem "ungesunden Schulzwang" ausgesetzt, der für die Entwicklung nicht förderlich sei. Man sollte daher nicht die Kinder ändern, sondern die Schulen.

Buchtipp: "Freiheit für die Kinder - Freiheit für die Schule", Harald Eichelberger, Studienverlag.

"Lernen und Gehirn - Der Weg zu einer neuen Pädagogik", Ralf Caspary (Herausgeber), Herder.

Wissen:

Montessoripädagogik: Ein von Maria Montessori ab 1907 in Italien entwickeltes Konzept. Es beruht auf dem Bild des Kindes als "Baumeister seines Selbst" und wendet den offenen Unterricht und die Freiarbeit an. Die Beobachtung des Kindes soll dazu führen, Techniken anzuwenden, um den Lernprozess maximal zu fördern. Im Unterricht werden Materialien wie Perlen, Würfel oder Wortsetzkästchen verwendet. Der Grundgedanke lautet: "Hilf mir, es selbst zu tun".

Freinetpädagogik: Eine von Célestin Freinet 1920 in Frankreich begründete Bewegung, um das Schulwesen von innen zu reformieren. Der lehrergelenkte Unterricht wird durch selbstbestimmten Schülerunterricht - selbständiges Arbeiten, Exkursionen, Erkundungen - ersetzt. Die Kinder bestimmen weitest selbst, was sie lernen, regeln, mit wem sie arbeiten, welche Zeit sie brauchen und berichten vor der Klasse über ihre Arbeit.

Jena-Plan: Der Jena-Plan ist ein Schulentwicklungskonzept, das von dem Pädagogen Peter Petersen 1927 an der Uni Jena begründet wurde. Nicht Selbständigkeit oder Erleben stehen im Mittelpunkt, auch nicht demokratische Mitbestimmung, sondern die Volksbildung, mit der die Bedeutung der Schule aufgewertet wird. Wichtig sind altersgemischte Gruppen, was vielfältigere Wirkungsmöglichkeiten erlaubt, etwa im Blick auf das Helfersystem unter Schülern. Die Schüler werden beurteilt, aber nicht mehr gegeneinander aussortiert.

Dalton-Plan: Der Dalton-Plan wurde von der US-Pädagogin Helen Parkhurst um 1919 begründet. Freiheit, Verantwortung, Zusammenarbeit und Selbsttätigkeit stehen im Vordergrund. Den Schülern stehen die Methodenwahl, die Zeiteinteilung und die Arbeitsweise frei. Der Lehrer übernimmt die Funktion eines Beraters.