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Die Kunst der Diskriminierung

Von Edwin Baumgartner

Politik

Vor dem 20. Jahrhundert ist alle Kunst politisch inkorrekt.


Die politische Korrektheit trifft Dante mit voller Wucht: In Italien ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob man Schulausgaben der "Göttlichen Komödie" von rassistischen Passagen reinigen müsse. Immerhin hat der mittelalterliche Dichter, dessen Hölle, Fegefeuer und Himmel schilderndes Epos als eine der bedeutendsten Dichtungen der Menschheit gilt, Judas in die Hölle verbannt, wo sich auch der Gründer des Islam, Mohammed, findet.

Das sei anti-islamisch, meinen die Tugendwächter, und antisemitisch. Sie haben zweifellos recht. Aber ist es statthaft, Kunstwerke längst vergangener Zeiten, in denen grundlegend andere moralische Koordinaten galten, durch eine mittels Nationalsozialismus und Faschismus geschärfte Brille zu betrachten - und eine entstellende Reinigung dieser Kunstwerke zu verlangen?

Dabei ist Dante noch harmlos. Da gibt es einen Autor, der bezüglich der Juden gar fordert, "dass man ihre Synagoga oder Schulen mit Feuer anstecke und was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacken davon sehe ewiglich". Was sich wie ein sprachlich manirierter Aufruf des "Völkischen Beobachters" zur sogenannten Reichskristallnacht liest, stammt in Wahrheit von Martin Luther. Und über jüdische Ärzte, deren Können gerade im Mittelalter und der frühen Neuzeit als überragend galt, meinte der Initiator des evangelischen Bekenntnisses: "Die Juden, die sich für Ärzte ausgeben, bringen die Christen, welche ihre Arznei gebrauchen, um Leib und Gut. Denn sie meinen, sie tun Gott einen Dienst, wenn sie die Christen nur weidlich plagen und heimlich umbringen."

Es ist halt ein Krampf mit den Künstlern jener Zeit. Ihre Werke stehen fest auf den Säulen des Christentums - und dieses unternimmt alles, um sich vom Judentum abzunabeln. So driften Judentum und Christentum allmählich auseinander. Schließlich herrscht eine völlige Verwirrung der Tatsachen: Als Lehrmeinung gilt, die Juden hätten den nicht-jüdischen Christus ans Kreuz geschlagen, obwohl die Wahrheit genau umgekehrt ist. Nämlich die nicht-jüdischen Römer haben den Juden Jesus ans Kreuz geschlagen, und es hat auch nicht der Jude Judas den nicht-jüdischen Christus verraten, sondern der Jude Judas hat den Juden Jesus verraten. Inwiefern der Verrat überhaupt ein Verrat war, steht ohnedies auf einem anderen Blatt.

Der Großteil der Künstler bis tief hinein ins 19. Jahrhundert folgt jedoch der christlichen Lehrmeinung. Und das schlägt sich eben in antisemitischen Darstellungen nieder.

Anti-jüdischer Leonardo

Zumal sich die Darstellungsweise bis ins Barockzeitalter auf einen Motiv- und Formenkanon stützt, der lediglich in sich, nicht aber als Ganzes variabel ist. Dementsprechend erscheint Judas in den meisten Darstellungen des Abendmahls Jesus gleichsam als opponierender Gegner gegenübersitzend, seine Züge sind geprägt von anti-jüdischen Stereotypen.

Leonardo da Vinci wagt es in seiner Darstellung des Letzten Abendmahls zumindest, Judas unter den anderen Jüngern zu platzieren, und das sogar in ziemlicher Nähe zu Jesus, die anti-jüdischen Stereotypien der Gesichtszüge hat Judas, wenngleich in etwas geringerem Ausmaß, auch bei Leonardo.

Doch es ist nicht nur die Malerei mit anti-jüdischer Thematik befasst. Es entstehen religiöse Spiele, die meisten zum Thema Christi Geburt und Passion Christi, anders gesagt: Weihnachts- und Osterspiele. Und sie sind voll mit anti-jüdischen Ressentiments. Mitunter bringen die zumeist anonymen Autoren sogar anti-jüdische Aussagen unter, die nicht einmal in den Kontext passen.

In einem Fall hat sogar ein jüdischer Autor anti-jüdische Tendenzliteratur geschrieben: Lion Feuchtwangers Roman "Jud Süß" will etwas völlig anderes, landet aber bei den altbekannten Stereotypien und zeichnet die Titelgestalt insgesamt unsympathisch.

Es bleibt indessen nicht bei einer anti-jüdischen Tendenz. Die Kunst vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt keine politische Korrektheit und keine Rassenproblematik, sie will einzig und allein verdeutlichen und ihre Inhalte so spannend als möglich erzählen.

So hebt eine der aufregendsten Erzählungen des klassischen Kanons mit diesem aus heutiger Sicht politisch völlig unkorrekten, ja geradezu haarsträubenden, allerdings in seiner extremen Verdichtung des Geschehens und seinem sprachlichen Rhythmus grandios gestalteten Satz an:
"Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango."

Soll man aufgrund dessen nun Heinrich von Kleist aus der Literaturgeschichte ganz tilgen, diesen (und manch anderen Satz der Novelle) auf Blümchenintegrationsprosa umschreiben (und somit ein Kunstwerk verfälschen) oder einfach so tun, als sei "Die Verlobung in St. Domingo" nie geschrieben worden? Oder gebietet die Vernunft, Kleists Erzählung allenfalls mit einem Kommentar auszustatten, der eine historische Einbettung betreibt und dem ohnedies nur scheinbaren Problem endgültig seinen Stachel nimmt?

Eine andere Frage ist, weshalb die Tugendwächter der politischen Korrektheit ihr Augenmerk eigentlich mit solcher Ausschließlichkeit auf rassistische Äußerungen lenken. Schließlich erfahren auch Menschen mit Behinderung eine permanente Diskriminierung in der Literatur.

Die griechische Mythologie schildert ihren blinden Seher Teiresias wenigstens noch als weise, wenngleich seine Erblindung eine Strafe ist, dafür nämlich, dass er sich bei einer Wette auf die Seite von Zeus stellte statt an die Heras. Im 13. Jahrhundert erfolgt in "Le Garçon et l’Aveugle", der ältesten Farce des französischen Theaters, die Verspottung eines Blinden. Auch die Moslems lachen schallend über die behinderten Brüder des Barbiers der Märchen von "1001 Nacht", die dem Sultan Erheiterung verschaffen.

Böse Behinderte

Die Literatur ist voll mit bösartigen Buckligen, hinterlistigen Zwergen, die man heute wohl als Kleinwüchsige bezeichnen würde, und einer oder mehrerer Gliedmaßen beraubter blutgieriger Seeräuber wie Long John Silver in Robert Louis Stevensons "Schatzinsel" oder Kapitän Hook in James Matthew Barries "Peter Pan". Der einbeinige und im Gesicht entstellte Kapitän Ahab wird in Herman Melvilles "Moby Dick" dann gar zu einer Art Antichrist.

Eine grundlegend andere Tendenz vertritt vorerst nur der französische Dichter Victor Hugo, in dessen Roman "Notre-Dame de Paris" die Verhältnisse genau umgekehrt sind: Der bucklige Glöckner Quasimodo hat eine reine Seele, der schöne Phoebus de Châ-
teaupers ist hingegen nicht einmal der grandiose Schurke, sondern einfach nur eine charakterlich miese, geradezu jämmerliche Gestalt.

Doch wie umgehen mit den rassistischen Bildern und Romanen und den behindertenfeindlichen Erzählungen? Die Bilder verhängen oder gar zerstören? Die Erzählungen zensurieren? Damit jedoch landen die Wächter der politischen Korrektheit bei den Praktiken jener politischen Kräfte, deren Anfängen sie durch ihre Tätigkeit wehren wollen.