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Das Ansehen wiederherstellen

Von Cigdem Akyol

Politik

Haftstrafen schrecken "Ehrenmörder" nicht ab - der Gruppendruck ist stärker.


"WienerZeitung":Herr Kizilhan, wer ist für Sie ein "Ehrenmörder"?

Jan Ilhan Kizilhan: "Ehrenmörder" wollen ihre angeblich verletzte Wertevorstellung durch Gewalt wiederherstellen. Frauen müssen sterben, weil sie aus Sicht der Familie traditionelle Normen verletzt haben, vor der Ehe eine sexuelle Beziehung haben, sich scheiden lassen wollen oder ein an westlichen Normen orientiertes Leben führen. Die patriarchalische Vorstellung von Ehre ist sehr eng verbunden mit der Sexualität der Frauen. Wenn sich eine Frau sexuell frei verhält, fühlt sich der Mann wegen seiner verinnerlichten patriarchalischen Werte verpflichtet, zu handeln, zu strafen, um seine Ehre wiederherzustellen. Er muss zeigen, dass er die Kontrolle über sein Eigentum hat, sonst wird er von der Gemeinschaft als schwach angesehen und abgelehnt.

Sie haben für ihre Studie 21 türkischstämmige Männer in Deutschland interviewt, die wegen "Ehrenmords" in Haft sitzen. Wie sind Sie an diese Männer herangekommen?

Ich bin seit 15 Jahren Gerichtsgutachter und habe zahlreiche "Ehrenmörder-Gutachten" erstellt. Hierdurch habe ich eingehende Kenntnisse über diese Gruppe und wollte die Täter mit anderen vergleichen. Über Rechtsanwälte, Richter und Familien der Täter haben meine Mitarbeiter und ich diese Personen gefunden. Es war sehr schwierig, anhand der Aktenlage auszusortieren, wer aus geglaubter Ehrverletzung getötet hat und wer das nur behauptet.

Warum gelingt es den Männern nicht, diese angebliche Ehrverletzung auszuhalten statt zu morden?

Wenn die eigene Community nicht demokratisch ist und sich vom Mann entfernt, der diese "Ehrverletzung" erleidet, ihn meidet oder ausschließt, hält er dem Druck nicht stand. Diese Männer kommen aus einer Gesellschaft, in der die Akzeptanz des Kollektivs eine hohe Bedeutung hat. Ihre eigene Identität definieren sie großteils über die Mitgliedschaft im Kollektiv, dessen Interessen und Vorgaben ihnen wichtiger sind als individuelle Identität und Freiheit. Das Kollektiv gibt ihnen keine ausreichende Alternativen für friedliche Lösungen.

Sie verglichen diese "Ehrenmörder" mit 44 anderen türkischstämmigen Gewalttätern.

Die "Ehrenmörder" sind wesentlich religiöser und patriarchalischer. Viele haben in ihrer Kindheit Gewalt erlebt. "Ehrenmörder" handeln nicht aus einem Impuls; er plant die Tat lange Zeit im Voraus, meist über Monate hinweg. Sie kommen meist aus kollektiv-traditionellen Gesellschaften.

Ist in der Kindheit erlebte Gewalt eine Erklärung für ihr Handeln?

Die von uns befragten Ehrenmörder haben nicht die typischen Merkmale eines Killers oder Gewalttäters, sie sind vorher nicht straffällig geworden. Bis zur Tat sind es gewöhnliche Mitglieder der Gesellschaft, die durch eine Ehrverletzung ins Wanken geraten. Wer Gewalt als Lösung erlernt, wendet sie selber an. Gewalt durch Eltern, mit der Komponente patriarchalische Wertvorstellungen, verstärkt die Tendenz.

Wie ausschlaggebend sind migrationsbedingte Belastungen?

Migration ist natürlich eine Belastung, aber kein alleiniges Kriterium, um kriminell zu werden. Migration allein macht weder krank noch sozial auffällig. Sozialisation, Bildung, Integration und die wirtschaftliche Situation spielen genauso eine wichtige Rolle.

Es gibt vereinzelt auch Frauen, die zu "Ehrenmörderinnen" werden. Haben sie die gleichen Motive?

Absolut. Frauen übernehmen die patriarchalischen Denkstrukturen von Männern. Häufig fordern sie sogar stärker, so eine Tat zu begehen. Sie machen größeren Druck auf die Männer, das Thema wird innerhalb der Gemeinschaft heftig diskutiert, die Betroffenen werden psychisch unter Druck gesetzt. Diese "Gespräche" der Frauen bei Besuchen, Feierlichkeiten oder am Telefon führen oft zur Verstärkung des Konflikts. Bei "Ehrenmörderinnen" geht es seltener um sexuelle Aspekte. Die verinnerlichten traditionellen Werte geben ihnen vielleicht auch als unterdrückten Frauen eine Form von Sicherheit und eine Rolle in der Gemeinschaft. Ein sexuell freier Mann muss nicht damit rechnen, Opfer eines "Ehrenmords" zu werden. In diesen Gesellschaftsschichten werden die Frauen als Besitz des Mannes verstanden - und nicht umgekehrt.

Ein Österreicher tötet seine Partnerin aus Eifersucht: Das ist doch dasselbe wie bei einem Türken.

Auf emotionaler Ebene nicht. Die psychischen Prozesse sind vergleichbar, aber der soziale Druck ist anders: Der muslimische Mann weiß, dass eine öffentlich gewordene Ehrverletzung ihn unter Druck setzt und er sein Ansehen wiederherstellen muss, ein österreichischer Mann nicht.

Ihre "Ehrenmörder" gingen im Schnitt fünf Jahre zur Schule. Ist fehlende Bildung ein Katalysator?

Ja. Wer eine niedrige Schulbildung hat, kennt möglicherweise weniger Lösungsalternativen, der kann in Konflikten weniger human reagieren.

Die Furcht vor Strafe hält nicht von so einer Tat ab?

Nein, diejenigen, die sich dazu entschlossen haben, kalkulieren den eigenen Tod oder eine lebenslange Haftstrafe mit ein.

Jan Ilhan Kizilhan
ist Professor für Psychologie und Leiter der Arbeitsgruppe Migration und Rehabilitation an der Uni Freiburg.