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Soko Lesen an den Schulen

Von Bettina Figl

Politik

Im Herbst sollen die Lese-Crashkurse auf alle Bezirke ausgeweitet werden.


Wien. Wenn von "Sonderkommission" und "Risikogruppen" die Rede ist, kann es - zumindest im schulischen Bereich - nur um eines gehen: das Lesen. Wie wichtig diese Fertigkeit ist, wissen die Schüler. Martin ist 13 Jahre alt und hat schon alles genau geplant: Nach der Matura will er studieren, um Augenarzt werden zu können.

Den Rücken zu stärken ist ein wichtiger Teil der Lesecrashkurse: Sie sollen Schülern wie Habibullah und Martin kurz vor ihrem Pflichtschulabschluss das Wichtigste mit auf den Weg geben.
© © Stanislav Jenis

Er sitzt hinter einem Computer in einem hellen Klassenzimmer der Kooperativen Mittelschule (KMS) Viktor-Christ-Gasse in Wien-Hernals. Neben ihm hat der 15-jährige Habibullah Platz genommen, der nach dem Pflichtschulabschluss an der HTL Hochbau lernen möchte. Die beiden sind ihren Zielen seit diesem Schuljahr ein kleines Stückchen näher gerückt: Bis vor kurzem waren sie noch extrem schwache Schüler - nun, zu Ferienbeginn, können sie texterfassend lesen und sich besser artikulieren.

Acht Wochen intensiv lesen für Kinder der 8. Schulstufe

Sie sind zwei von knapp 200 Schülern, die heuer einen von 20 "Lesecrashkursen" in Wien besuchten: Acht Wochen lang wurden sie aus ihren Klassen herausgenommen und in Gruppen von bis zu acht Kindern unterrichtet. Während im Unterricht Stationen und Arbeitsblätter auf dem Stundenplan standen, erledigten sie auch außerhalb der Schule ihre (Lese-)Aufgaben: ein Buch pro Woche ("Total verknallt" war der Favorit). Gemeinsam mit Lehrerin Regina Geher wurden Büchereien und das Arbeitsmarktservice besucht. Das Ziel der Kurse ist es, den Kindern vor Ende der Pflichtschule noch möglichst viel mitzugeben - idealerweise auch der Pflichtschulabschluss. Wichtig ist es für diese Kinder, die oftmals erst seit kurzer Zeit in Österreich sind, dass sie in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden - die uninformierten Eltern seien oft keine große Hilfe, so Geher: "Was nicht in der Schule passiert, fehlt."

2011 starteten die Crashkurse als Pilotprojekt in Wien-Hernals. "Während vor dem ersten Crashkurs sieben von acht Kindern ihre Adresse nicht auf Deutsch schreiben konnten, konnten es nachher alle", resümiert Rupert Corazza, Bezirksschulinspektor für den 17. Bezirk und Soko-Lesen-Beauftragter. Mittlerweile wurden die Kurse auf die Bezirke Wieden, Margareten und Favoriten ausgeweitet.

Nach dem Kurs kann Martin in der Klasse besser reden

Der Iraner Martin kam vor zwei Jahren in die KMS Viktor-Christ-Gasse. Wenige Tage vor Beginn der Ferien spielt er ein Leseprogramm auf dem Computer durch und sagt in exakter Artikulierung: "Der Kurs hat mir geholfen, um mit meiner Klasse reden zu können." Weniger leicht kommen seinem Schulkollegen Habibullah die Wörter über die Lippen; ihm falle Lesen leichter als Sprechen, sagt der zurückhaltende Afghane. Crashkurs-Lehrerin Geher streift von Tisch zu Tisch und hilft den Schülern bei den Aufgaben. Oft würde es nicht an den Lesefertigkeiten, sondern am fehlenden Wortschatz mangeln, erklärt sie.

Zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Österreich werden Schüler, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, nur benotet, wenn die positive Benotung möglich ist. Für sie gibt es Förderprogramme, doch auch "mittelgute" Schüler seien meist überfordert und würden mehr Unterstützung benötigen, sagt Geher.

"Viele dieser Kinder kennen nur die arabische Schrift"

15 Minuten Lesen pro Tag bewahrt davor, zum "Lese-Risikoschüler" zu werden.
© © Friedberg - Fotolia

"Es ist schwierig nachzuvollziehen, was diese Kinder leisten müssen. Etliche kennen nur die arabische Schrift und müssen die Block- und dann Lateinschrift lernen", so Geher. Für unterdurchschnittlich begabte Kinder empfiehlt sie eine "Dauerbetreuung in kleinen Portionen" - und zwar mehr als die derzeit üblichen elf Deutschstunden pro Woche. Sie plädiert dafür, bereits im Volksschulbereich anzusetzen. In Schulen wie jener in Wieden fehlen die sprachlichen Vorbilder, in den Klassen sitzen maximal zwei Schüler mit deutscher Muttersprache.

Während das Lesen an sich oft kein Problem darstellt, verstehen viele Kinder nicht, was sie lesen. Dazu benötigt es kontinuierliche Übung, doch reichen dafür wenige Wochen aus? Corazza spricht sich daher gegen eine Verlängerung des Lesecrashkurses aus: "In acht Wochen erreichen wir die Fortschritte, die möglich sind", und es gebe ja auch noch die "dauerhafte Begleitung" im Deutschunterricht.

Zusätzlich gibt es Sprachförder- und Alphabetisierungskurse. Und jene 3700 Schüler, die beim Wiener Lesetest im Vorjahr zu den Risikoschülern zählten, wurden heuer - nach diesen Fördermaßnahmen - nachgetestet: Bei den Hauptschülern hatten sich 40 Prozent so sehr verbessert, dass sie nicht mehr zur Risikogruppe zählen - bei den Volksschülern sogar 60 Prozent. "Je älter die Schüler, desto geringer wird die Chance, dass auch bei intensiver Beschulung die Ergebnisse besser werden", sagte Stadtschulrätin Susanne Brandsteidl bei der Präsentation der Ergebnisse. Konzipiert wurden die Lesetests vom Bundesinstitut für Bildungsforschung Bifie, das auch Pisa und andere internationale Bildungsvergleiche durchführt. Im Gegensatz dazu sei der Lesetest aber ein "individueller Messvorgang", da jeder Schüler und dessen Eltern die Testergebnisse erhält, so Bifie-Direktor Günter Haider. Er sieht sich durch das Ergebnis gestärkt: "Das ist auch eine Befriedigung für uns. Diese Tests helfen den Schülern, besser zu werden."

Talente-Scan, Pisa, Lesetest: 2012 als "Jahr der Tests"

2012 könnte durchaus als "Jahr der Testungen" in die Geschichte eingehen. Bei den alle drei Jahre stattfindenden Pisa-Tests wurden heuer im April rund 5000 Schüler des Jahrgangs 1996 in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften überprüft, die Ergebnisse erfahren die Schüler im Dezember.

Erstmals wurden im Mai die Bildungsstandards in Mathematik überprüft. Die Kompetenzen aller 80.000 Schüler der achten Schulstufe wurden getestet. Auch hier liegt das Ergebnis erst im Dezember vor.

Und schon ab Herbst gibt es einen weiteren Test für Jugendliche der 8. Schulstufe: Das Projekt "Talente-Scan Berufsbildung" soll 14-Jährigen Orientierung bezüglich ihrer Stärken und Schwächen geben. Die Pilotphase startet bereits im Herbst für rund 2000 Schüler an 22 Wiener Mittelschulen, ab 2013 ist der Test dann für alle rund 16.000 Schüler der 8. Schulstufe verpflichtend. Hintergrund der Initiative ist der Mangel an Lehrlingen.

Und auch der "Wiener Lesetest" wird im nächsten Schuljahr auf die dritte und siebente Schulstufe ausgeweitet, die Crashkurse finden in allen Bezirken statt. Vielleicht könnten die Ferien also auch zum Lesen genutzt werden - laut Bezirksschulinspektor Corazza zeigen Studien, dass schon 15 Minuten Lesen pro Tag verhindert, dass man zum "Lese-Risikoschüler wird".