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Migranten stärker suchtgefährdet

Von Yordanka Weiss

Politik

Je nach Kulturkreis sind verschiedene Drogen unterschiedlich stark verbreitet.


Wien. Herr K. war opiatabhängig, ist HIV-positiv und leidet an Depressionen. Er ist 30 Jahre alt, stammt aus Ex-Jugoslawien, zehn Jahre Drogenersatztherapie konnten seine Lebensqualität erheblich verbessern. Jetzt gilt er als chronisch krank, arbeitet und lebt in einer Beziehung. Dass er nicht alleine ist, das ist ihm wichtig zu wissen. Wenn er Hilfe braucht, ruft er den Verein "Dialog" an, der seit 30 Jahren individuelle Suchthilfe an fünf Orten in Wien anbietet.

Geschätzte 30 Prozent der Klienten von "Dialog" sind Migranten. "Erlittene Traumata erhöhen das Risiko für Alkohol- oder Opiatabhängigkeit", betont Geschäftsführerin Christine Tschütscher. Nicht immer bringen sie die Suchterkrankungen von ihrem Herkunftsland mit. "Das kann, aber es muss nicht sein. Das Suchtproblem tritt vor allem bei der zweiten oder dritten Generation auf", sagt Tschütscher.

Spaltung zwischen Kulturen

Die erste Generation entschied sich bewusst, auszuwandern. Die zweite Generation hingegen könne an Perspektivenlosigkeit, sozialer Isolation und der Spaltung zwischen den Kulturen leiden. Schwierigkeiten bei der Eingliederung in das soziale Gefüge sind nicht der einzige Grund. Migranten sind wesentlich öfter arbeitslos als Einheimische. Das sei eine zusätzliche Belastung - und ein weiterer Auslöser für eine Suchterkrankung.

Probleme treten auch bei der Diagnose auf: Krankheitssymptome werden je nach Kultur unterschiedlich dargestellt. Manche Afrikaner hängen Verhexungsideen an als traditionelles Erklärungsmodell bei Erkrankungen. In den Anden hingegen hat Sucht mit dem Kauen von Cocablättern sogar Tradition. Migrationsforscher sind sich nur in einem einig: Auswanderung belastet die Seele. In wie vielen Fällen sie in einer Sucht mündet, ist zu erforschen.

Mit den Biografien junger, suchtkranker Frauen beschäftigt sich Dana Pajkovic in ihrer Dissertation. Sie eruiert, welche Bedeutung die Migration im Kontext der Erkrankung hat. "Meine Arbeit zeigt: Je früher Traumatisierungen stattfinden, desto eher kommt es zu einer Suchterkrankung", sagt Pajkovic.

Als "Sucht" wird eine körperliche oder psychische Abhängigkeit eines breiten Spektrums von Substanzen bezeichnet: Drogen-, Alkohol- oder Arzneimittelkonsum fällt darunter, ebenso pathologisches Glücksspiel, Kauf- oder Arbeitssucht. Das krankhafte Abhängigkeitssyndrom kann viele Ursachen und unterschiedliche Verläufe haben.

Mit den spezifischen Suchtproblemen von Migranten hat sich die Fachwelt bisher wenig auseinandergesetzt. Hinweise liefert das europaweite Forschungsprojekt "Search" zum Thema der Suchtbelastung von Flüchtlingen und Asylwerbern, das vom Wiener Institut für Sozial- und Gesundheitspsychologie durchgeführt wurde.

Im Jahr 2003 konzentrierten sich die Forscher auf die Gruppe der Iraner. Das Ergebnis: Da Opium kaum erhältlich ist, sind viele Iraner auf das Rauchen von Heroin umgestiegen. Ein erhöhtes Risiko für eine Suchterkrankung haben demnach Flüchtlinge wegen der erlittenen Traumata. Traumabearbeitung zur Suchtvorbeugung von Flüchtlingen wurde zur Behandlung empfohlen.

"Sucht ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren", erzählt Michael Dressel, Drogenkoordinator und Geschäftsführer der Sucht- und Drogenkoordination Wien. "Migranten kämpfen verstärkt mit fehlender Orientierung und Perspektivenlosigkeit. Sie haben aber auch Schutzfaktoren: Communitys spielen eine schützende Rolle." Sie sichern ein stabiles soziales Umfeld und unterstützen die Eingliederung in die neue Gesellschaft.

Je nach Kultur würden auch Drogenpräferenzen divergieren: In Europa ist Alkohol am verbreitetsten. Er ist laut Dressel das mit Abstand häufigste Suchtproblem in Österreich, Cannabis folge erst mit deutlichem Abstand. In anderen Kulturkreisen sei der Alkohol wiederum verpönt.

Auf kulturspezifische Trends stieß das Institut für Sozial- und Gesundheitspsychologie auch im Jahr 2005 im Rahmen von "Search II", als es sich mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen befasste: Westafrikanische Jugendliche konsumierten häufiger Cannabis, osteuropäische litten eher unter Alkoholproblemen.

Ein oft tabuisiertes Thema

Um Betroffene mit ausländischen Wurzeln besser ansprechen zu können, sei mehrsprachige Betreuung ein strategischer Teil der Drogenpolitik und der Organisation der Sucht- und Drogenhilfe in der Bundeshauptstadt, berichtet Michael Dressel. Man bekomme Hilfe auf Türkisch, Russisch und Englisch sowie auf Serbisch, Kroatisch und Bosnisch. Auch "Dialog" berät mehrsprachig und kostenfrei, persönlich oder online. Mit dabei sind ein Sozialarbeiter, ein Psychologe und ein Mediziner. Bei Bedarf wird ein Psychiater hinzugezogen.

"Die Heilung einer manifesten Suchterkrankung ist ein langer, herausfordernder Weg", sagt Pajkovic. Noch existiere das Bild, dass Betroffene zum Arzt gebracht werden und dann ist es mit dem Suchtproblem vorbei. Sucht sei zudem generell und auch bei Migranten ein tabuisiertes Thema. Viele Eltern, vor allem der ersten Generation, versuchen ihre Kinder in die Herkunftsländer zur eigenen Familie zu bringen. Auch Klöster seien eine beliebte Unterbringungsart. "Die Eltern denken, dass ihre Kinder dort geheilt werden", so Pajkovic. Die Rechnung gehe aber nicht auf, wenn die Ursachen für die Erkrankung nicht behandelt werden. Die Methode des kalten Entzugs könne sogar lebensgefährlich sein bei Benzodiazepinen, Alkohol und in Ausnahmefällen bei Heroin.