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Nur Schund war etwas wert

Von Nada Andjelic

Politik
"Ohne jegliche Absicht wurden wir zu Punks", sagt Davorin Bogovic von "Prljavo Kazaliste".
© letscee

Vor 35 Jahren veränderte eine "neue Welle" Jugoslawien - bis heute.


Wien. Zagreb 1977: Die "neue Welle" schwappte über das kommunistische Jugoslawien. Die Musikszene definierte sich und die Gesellschaft neu. Der Geist von Individualismus und Revolution beherrschte Zagreber Viertel und breitete sich bis nach Belgrad aus. "Das ist der Ort, an dem mein Kosmos entstand", meint Regisseur Igor Mirkovic über die spontanen Straßenpartys in seinem Dokumentarfilm "Lucky Kid" (Originaltitel: "Sretno dijete"). Die Punkrock-Welle rauscht immer noch in den Ohren ex-jugoslawischer Musikliebhaber, seit mehr als 35 Jahren.

Mirkovic’ Film wandert seit 2005 durch internationale Festivals, heuer war er beim "Let’s CEE"-Festival in Wien. "Sein ganz privates Universum" sei damals bei spontanen Zusammenkünften in den Cafés einer Zagreber Straße entstanden, erzählt der Regisseur. "Die Szene dehnte sich mit der Schnelligkeit des Universums selbst aus. Es ist eine Geschichte von großen Helden, als ich selbst noch klein war." Sein erstes Konzert besuchte er 1977. Es spielte eine Band aus Sarajevo - "Bijelo dugme" (Weißer Knopf). Bei ihren Hits singt heute noch jeder mit, ob alt oder jung. Die Band ist eine der wichtigsten der "neuen Welle". Viele bis heute berühmte Musiker waren Bandmitglieder. "Bis heute bin ich nicht geheilt", sagt Mirkovic über seine Sucht nach Rockkonzerten, die an diesem Abend entstand.

"Lucky Kid" zeigt die Entstehung der "neuen Welle" von Punkrock und ihre Auswirkungen auf Mirkovics Leben und eine ganze Gesellschaft. Es geht um eine Ära, von der sich einige vielleicht insgeheim wünschen, in ihr gelebt zu haben. In von ex-jugoslawischen Migranten besuchten Lokalen ist die Musik mehr als 30 Jahre später immer noch zu hören. Bosnische, kroatische, serbische Musiker spielen Punkrock in allen Pubs der Diaspora.

"Prljavo kazaliste" (Schmutziges Theater) war eine der ersten Bands. "Mehr schlecht als recht und ohne jegliche Absicht wurden wir zu Punks", erzählt Bandsänger Davorin Bogovic im Film. Im Grunde hätten sie bestehende, zu sanft klingende Lieder einfach schneller gespielt und kreischender gesungen. Die jungen Burschen lebten ihre Verrücktheiten aus, sagten ihre Meinung, waren laut und schufen so eine Bewegung. In der Tito-Ära, als Zucht und Ordnung gleich hinter kommunistischer Brüderlichkeit standen, war dies ein drastischer Umschwung. Die neue Jugend folgte nicht mehr Tito, sondern wilden Gitarrenklängen - bis heute.

Viele der wichtigsten Bands der Musikszene werden im Film vorgestellt. "Azra" (Name), "Atomsko skloniste" (Atombunker), "Bijelo dugme" (Weißer Knopf), "Elektricni orgazam" (Elektrischer Orgasmus), "Parni valjak" (Dampfwalze) hauchten Jugoslawien den "Spirit of Rock" ein. Mirkovic reiste für den Film von Zagreb nach Ljubljana, Wien, Belgrad, Budapest, Paris, Utrecht, New York, um Legenden von damals zu besuchen.

Einen großen Einfluss hatte die Gazette "Polet" (Enthusiasmus), die von der sozialistischen Partei gegründet wurde. Im Herbst 1978 änderte sich das bis dahin konservative Blatt und wurde Sprachrohr der Punkrock-Szene. Auf dem Titelblatt wurden Rocker mit den Worten "es geht etwas vor" gezeigt. Laut dem Musiker Jasenko Houra brachte das Blatt Bands aus allen Teilen Jugoslawiens "zusammen und machte sie publik". Es hat auch erstmals den Ausdruck "neue Welle" verwendet.

Ein Idol lebt zurückgezogen

Einer der wichtigsten Protagonisten des Films bleibt im Verborgenen: Branimir "Johnny" Stulic, Gründer der Band "Azra", war eine zentrale Figur der jugoslawischen Rockszene, ein Alternativer, wie er im Buche steht. Der Name der Band leitet sich aus dem Vers eines bosnischen Liebesgedichts ab und ist auch bei Heinrich Heine ("Der Asra") zu finden. Zurückgezogen lebt Johnny nun in Utrecht und will nicht mehr in die Öffentlichkeit. "Er war schon immer ein komischer Kauz", heißt es im Film. Bevor er berühmt wurde, spielte er an öffentlichen Plätzen Zagrebs. Wer ihm Geld zuwarf und sich ein Lied wünschte wurde enttäuscht: Er spielte nur, was er als spielbar betrachtete. "Ich telefoniere immer noch ab und zu mit ihm, aber er hat sich aus privaten Gründen zurückgezogen", sagt Mirkovic.

Für den in Wien lebenden bosnisch-stämmigen Fan Adis Ibrahimovic "ist und bleibt Johnny eine Legende". Der 33-Jährige hat in dem Künstler "sein Vorbild gefunden. Johnny ist durch und durch authentisch. Der Ruhm war ihm nie wichtig". In einem seiner berühmtesten Lieder "Sta da radim" (Was soll ich machen) besingt Johnny seine Lebensweise: Nichts ist mir mehr wichtig, ich habe eine gute Band gefunden. Ich will nur spielen, das ist alles.

"Platten waren die einzige wertvolle Währung in unserem Leben", sagt Mirkovic. Sobald eine LP die sogenannte "Schundetikette" der jugoslawischen Kontrollbehörde bekam, stieg ihr Wert. Sie bedeutete regimekritische Texte oder von der Regierung als Schund bezeichnete Musik. Fast alle Musiker der neuen Welle machten Schundmusik - für junge Fans wie Mirkovic "fast schon eine Auszeichnung".