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"Radikaler Kurswechsel nötig"

Von Katharina Schmidt

Politik

Karas warnt ÖVP vor Absturz und kündigt neue Unvereinbarkeitsregeln an.


"Wiener Zeitung": Die Anklage gegen Ernst Strasser wegen Bestechlichkeit ist fertig. Die Causa wurde oft auch als persönlicher Konflikt zwischen Ihnen beiden dargestellt. Welches Verhältnis haben Sie noch zu ihm?

Othmar Karas: Da machen es sich einige zu einfach, wenn sie moralisches Fehlverhalten auf einen persönlichen Konflikt reduzieren. Über den Unterschied bin ich froh. Mit Dr. Strasser habe ich jahrelang zusammengearbeitet. Darum bin ich ja so enttäuscht, dass der sich für sein Verhalten gegenüber Kollegen und Bürgern bisher nicht entschuldigt hat.

Warten Sie auf eine Entschuldigung?

Wenn seine Variante stimmt, dass er das alles gewusst hat und ja nur aufdecken wollte, dann hat er es nicht gesagt, uns instrumentalisiert und in die Irre geführt. Das ist eine Entschuldigung wert. Und wenn seine Variante nicht stimmt, dann erst recht. Beides ist ein Fehlverhalten gegenüber den Bürgern, ein Schaden für das Europäische Parlament und für die Politik generell. Die politischen Institutionen haben einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten. Daher brauchen wir in der Politik einen radikalen Kurswechsel.

Strasser ist nicht der einzige ÖVP-Politiker, der in jüngster Zeit unrühmlich zurücktreten musste. Was läuft falsch in der Volkspartei?

In allen Parteien hat es offensichtlich Dinge gegeben, die weder regelkonform noch anstandsadäquat sind. Es ist nicht damit getan, die handelnden Personen auszuschließen und dass alle, die keinen Dreck am Stecken haben, zur Tagesordnung übergehen. Gefordert sind wir alle.

Was soll geschehen?

Eine meiner Bedingungen für die Wiederübernahme der Delegationsleitung war der Grundsatz: Wer lügt, der fliegt. Auch haben wir sehr klargestellt, dass bezahltes oder gewerbliches Lobbying mit der Ausübung eines Mandats unvereinbar ist. Neue Gesetze allein reichen nicht: Auch bei der Personalauswahl muss scheinbar Antiquiertes wie Ehrlichkeit, Charakter und moralisches Gespür wieder stärker berücksichtigt werden. Experten im überparteilichen Bürgerforum Europa 2020 werden in den nächsten Wochen einen weiteren Vorschlag für eine Verschärfung der Unvereinbarkeitsbestimmungen präsentieren.

Wie sollen die aussehen?

Das werden wir im Herbst präsentieren. Ich will, dass wir aufhören, die Regierung als Außenstellen der Parteisekretariate zu verstehen. Auch muss das Wahlrecht personalisiert werden, im Parlament muss es Hearings mit den Nominierten geben. Bisher hat man das Gefühl, dass die Parlamente den Regierungen verpflichtet sind, dabei muss es genau umgekehrt sein. Bei der Personalauswahl wird oft der bequemste Weg beschritten und nicht die stärkste Persönlichkeit gekürt, die unabhängig agiert.

Sie wollen also parteiunabhängige Fachminister?

Ich bin für Offenheit. Parteien üben eine wichtige Rolle aus, aber ich bin für starke Persönlichkeiten und weniger Abhängigkeit vom System. Die Eigenverantwortung des Einzelnen muss steigen.

Meinen Sie damit auch den Bürger selbst, also eine Stärkung der direkten Demokratie?

Die direkte Demokratie muss und soll die repräsentative ergänzen, kann sie aber nicht ersetzen. Ich will eine echte Beteiligung der Bürger im Entscheidungsfindungs- und Diskussionsprozess. Aber ich bin gleichzeitig für eine Stärkung des Parlamentarismus. Man kann Politikerverantwortung nicht durch Multiplizierung von Volksabstimmungen ersetzen.

Wie soll das vonstatten gehen?

Ohne parlamentarische Zustimmung darf es keine Entscheidung auf österreichischer und europäischer Ebene geben. Ich bin für die Weiterentwicklung der EU zur politischen Union, weil nur so mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz möglich ist. So wie die EU im Moment konstruiert ist, wird zu viel von den Staats- und Regierungschefs hinter gepolsterten Türen ausgemauschelt. Die Folge ist, dass sich die Mitgliedsländer gegenseitig blockieren.

Zurück zur ÖVP: Ex-EU-Kommissar Franz Fischler warnt die Partei vor dem Absinken auf Platz drei. Wie beurteilen Sie ihren Zustand?

Er hat recht. Es braucht einen enormen Erneuerungsschub. Wenn die Volkspartei versucht, sich vor ihren Problemen wegzuducken, dann ist die Gefahr des dritten Platzes sehr groß. Die ÖVP muss offen auf die Bürger zugehen und die Themenführerschaft übernehmen.

Der Politfrust und die Zahl der Nichtwähler steigen, der Zulauf zu unabhängigen Initiativen ebenfalls. Wird irgendwann das Parteiensystem implodieren?

Die Menschen wollen ernst genommen werden, und die Politik macht manchmal den Eindruck, als würde sie sich vor dem Bürger fürchten. Wenn die Parteien sich nicht öffnen und die Struktur und die Bequemlichkeit wichtiger sind als der Mut zu notwendigen Veränderungen, dann wird es zu einer Erosion kommen.

Wie lange können die Ex-Großparteien erodieren ohne zu zerfallen?

Sie bekommen von mir keine Negativszenarien, das wäre zu einfach. Es muss an vielen Schrauben gedreht werden. Zunächst einmal müssen endlich die Konsequenzen aus der Finanz- und Staatsschuldenkrise und aus dem moralischen Fehlverhalten Einiger gezogen werden. Es braucht einen Kassasturz in allen Mitgliedstaaten der EU - es geht darum, den Bürgern offenzulegen, wie der Zustand des jeweiligen Landes wirklich ist und wie sich die zukünftigen Entwicklungen - Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsmangel, demografische Entwicklung - auf die Budgets und auf die Gesellschaft auswirken. Dann muss man gemeinsam mit den Bürgern einen Reformplan erarbeiten und die europäische Integration weiterentwickeln.

Es werden die Unkenrufe lauter, dass wir kurz vor einer Spaltung der Eurozone stehen. Wie sehen Sie das?

Das ist eine defensive Haltung. Die Europäische Integration und nicht die Stärkung des Nationalismus ist die Antwort. Uns gibt es als Kontinent in der Welt ohnehin kaum. Wer nun der Spaltung das Wort redet, macht Europa global zum Verlierer.

Othmar Karas (56) ist seit 2012 Vizepräsident des Europäischen Parlaments, dessen Mitglied er seit 1999 ist. Davor war er Nationalrat (83-90) und ÖVP-Generalsekretär (95-99). Bei der EU-Wahl 2009 kam er auf 112.954 Vorzugsstimmen, dennoch wurde ihm Ernst Strasser als ÖVP-Delegationsleiter vorgezogen. Seit dessen Abgang im Zuge der Lobbyingaffäre 2011 hat Karas das Amt wieder inne.

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