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"Es gibt noch Orte der Furcht"

Von Klaus Stimeder

Politik

Der ehemalige Drogendealer erarbeitete sich eine Dichter-Karriere.


Emanuel Xavier gilt als eine der lautesten und gleichzeitig poetischsten Stimmen junger, homosexueller Latinos in den USA. Für seine Arbeit wurde der im New Yorker Stadtteil Brooklyn lebende Dichter mehrfach ausgezeichnet; Gedichtsammlungen wie "Christ Like", "If Jesus were gay" oder der erstmals 2002 erschienene, soeben neu aufgelegte Band mit dem programmatischen Titel "Americano - Growing up Gay and Latino in the USA" (alle erschienen bei Rebel Santori Press), gelten längst als Genreklassiker.

Der Dichter Emanuel Xavier engagiert sich für die Anliegen von Homosexuellen und glaubt, dass ihre Interessen von Präsident Barack Obama zögerlich, aber doch vertreten werden.
© Foto: Sophia Wallace

Auch deswegen, weil Xavier, der sich als Erbe der "Nuyorican Poets" begreift - jener Gruppe puertoricanisch-stämmiger, aber nicht auf der Insel, sondern am amerikanischen Festland geborener Dichter und Schriftsteller, die der Latino-Experience Anfang der Siebziger erstmals Gehör verschafften -, als maßgeblicher Miterfinder jener jungen, schwulen Latinokultur gilt, die sich im vergangenen Jahrzehnt in den Großstädten der USA etabliert hat. Der 41-jährige Sohn eines ecuadorianischen Vaters und einer puertoricanischen Mutter wurde als Teenager aus dem Haus geworfen, nachdem er ihr seine Homosexualität gebeichtet hatte. Bis er mit Mitte 20 zu schreiben begann, schlug sich Xavier unter anderem als Nachtklub-Promoter und als Drogendealer durch. Vor sieben Jahren wurde er in Brooklyn Opfer eines Überfalls schwulen-feindlicher Jugendlicher, bei dem er das Hörvermögen in einem Ohr verlor. Xavier arbeitet im Hauptberuf als Verkaufskoordinator beim Verlagsriesen Random House mit Sitz in Manhattan.

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"Wiener Zeitung": Herr Xavier, wie lebt es sich als junger, schwuler Latino in den USA 2012?

Xavier: Relativ gut. Es ist schön, dabei zuzusehen, wie sich das Land verändert, auch wenn es bis zur wirklichen Gleichberechtigung noch ein weiter Weg ist. Als ich als 16-Jähriger in den späten Achtzigern mein Coming-out hatte, bin ich noch auf der Straße gelandet. Ich hatte Glück, habe nur deshalb überlebt, weil ich ab einem gewissen Zeitpunkt meinen Zorn und meinen Selbsthass kanalisieren konnte. Heute gibt es für junge Homosexuelle in den USA viel mehr Akzeptanz und Unterstützung. Trotzdem gibt es noch immer zu viele, die auf der Straße landen oder sich gar umbringen. Wenn es darum geht, als Latino geboren zu sein - tja, da hatte ich wohl einfach nur Glück. Aber im Ernst: Wir haben noch immer mit so vielen Dingen zu kämpfen, die uns von den immer unsicherer werdenden Weißen auferlegt werden. Es gibt Leute, die alles tun, um uns zu unterdrücken, weil sie Angst vor uns haben.

Barack Obama hat die Präsidentschaftswahl gewonnen. Was sind Ihre Erwartungen für seine zweite Amtszeit?

Dass er endlich die Gelegenheit bekommt, seine restlichen Versprechen einzulösen und den Neinsagern im Kongress den Mund zu stopfen. Und dass er damit weitermacht, für mehr Gleichberechtigung von Minderheiten und grundlegende Menschenrechte zu kämpfen.

Wie haben Sie den Wahlkampf erlebt?

Ich bin als Wähler der Demokraten registriert, aber ich könnte mir prinzipiell auch vorstellen, einen Republikaner zu wählen. Heuer war die Entscheidung allerdings leicht. Obama hat unsere Sache weiter gebracht, und als Präsident hat er insgesamt gesehen mehr gute als schlechte Arbeit geleistet. Wobei ich nicht glaube, dass Mitt Romney ein schrecklicher Präsident gewesen wäre. Aber er wäre zweifellos unter dem Druck seiner Partei gestanden. In der wirklichen Welt, die sich immer schneller ändert, hat die christliche Rechte Probleme, aber ihr politischer Einfluss ist nach wie vor groß. Ich habe Romney ein Gedicht namens "Americano" gewidmet, das ich in einer anderen Form erstmals vor gut zehn Jahren veröffentlicht habe. Für jemanden, dessen Va-ter in Mexiko geboren wurde, haben er und seine Partei erstaunliche Schwierigkeiten mit der Akzeptanz von Latinos und Schwarzen.

Welche Rolle haben die Stimmen der Latinos bei dieser Wahl gespielt? Und welche werden sie in Zukunft bei US-Wahlen spielen?

Eine extrem wichtige, weil für diese Gruppe vor allem die Einwanderungs-, Abtreibungs-, und Gleichbehandlungspolitik zählt. Jüngere Latinos sind im Allgemeinen weltoffener als ihre Eltern. Aber es kommt auch immer darauf an, ob sie auch wirklich wählen gehen.

In vielen Ihrer Gedichte nehmen Sie sich der problematischen Rolle an, die die Religion in den Vereinigten Staaten spielt. Welche Rolle spielt sie innerhalb der amerikanischen Latino-Community?

Immer noch eine große, auch wenn sich immer mehr von uns vom Katholizismus abwenden. Die Stärken und Schwächen jeder Religion werden heute innerhalb der Gemeinschaft offener diskutiert als früher. Es ist heute alles andere als selbstverständlich, dass Kinder von Einwanderern aus Lateinamerika die gleiche Religion haben wie ihre Eltern und ihre Großeltern.

Der Präsident und sein Vize haben sich im Vorfeld der Wahl für die gesetzliche Gleichberechtigung gleichgeschlechtlicher Ehen ausgesprochen - sehr zum Verdruss der politischen und religiösen Rechten.

Es mag unglaublich klingen, aber es gibt eine beachtliche Zahl von homosexuellen Amerikanern, die eine Partei wählen, die Politik gegen ihre Interessen macht. Das ist kaum zu verstehen, aber es ist so. Ich bin dem Präsidenten jedenfalls dankbar, dass er sich - zögerlich, aber doch - nicht nur für die Gleichberechtigung homosexueller Bürger ausgesprochen hat, sondern auch wirklich dafür kämpft. Dass er akzeptiert hat, dass es Liebe nicht nur zwischen Mann und Frau gibt. Die Zyniker unter den politischen Kommentatoren meinen ja, dass er sich nur deshalb für das Recht Homosexueller zu heiraten ausgesprochen hat, weil er sich ihre Stimmen sichern wollte. Das ist lächerlich. Als ob er die Mehrheit von uns nicht ohnehin schon längst in der Tasche gehabt hätte.

Eine breite Mehrheit der schwulen und lesbischen US-Bürger und -Bürgerinnen lebt in den Metropolen an der Ost- oder Westküste, die politisch nahezu ausnahmslos liberal sind. Aber wer kümmert sich eigentlich um jene in den Bundesstaaten, die dazwischen liegen und die ebenso nahezu ausnahmslos von Republikanern dominiert werden?

Es ist traurig, dass es in diesem Land immer noch Orte der Furcht gibt. Orte, an denen sich Homosexuelle fürchten müssen, wenn sie sich outen. Das Internet hat in dieser Hinsicht viel zum Fortschritt beigetragen, weil es uns bei der nationalen Vernetzung geholfen hat. Andererseits haben es sich die "Haters" ebenfalls zunutze gemacht, um ihre Botschaften zu verbreiten. Aber am Ende ist jeder von uns auf sich allein gestellt, egal, ob du in einer Kleinstadt, am Land oder in einer Großstadt lebst. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, egal, wo wir leben. Wie ich in einem meiner Gedichte geschrieben habe: "Sterne lassen sich nicht nur am Himmel finden, sondern in uns selbst."

Siehe auch:Website Emanuel Xavier