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Leer, hilflos und ohne Charme

Von Bernd Vasari

Politik
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Ohne Migranten gäbe es 90 Prozent der Taxifahrer in Wien nicht mehr.
© ORF-W

Mehr als die Hälfte der Wiener Wohnbevölkerung wäre nicht mehr da.


Wien. "Wenn in der Straßenbahn nur mehr alle ausländisch reden, dann ist das mühsam", "Viele Ausländer san echt frech", "Wir haben immer das Sparschwein und das Kreuz gehabt, das dürfen wir jetzt nicht mehr haben", "Am AMS-Laxenburgerstraße gibt es keinen deutschen Zettel mehr, ich kann aber nur Deutsch."

Diese und andere ähnliche Bemerkungen gibt es zuhauf, wenn Alteingesessene über das Thema Migration reden. Doch was wäre, wenn "diese Ausländer" die Stadt verlassen würden? Wie würde Wien aussehen? Diesem Gedankenexperiment widmet sich der Film "Wien - Stadt ohne Zuwanderung" von Fernsehjournalistin Münire Inam, der am Sonntag um 18.25 Uhr auf ORF 2 ausgestrahlt wird. Man ahnt es schon: Auf den Straßen würde sich gähnende Leere breitmachen, mehr als die Hälfte der Wiener Wohnbevölkerung wäre schließlich nicht mehr da. Staatsoperndirektor Dominique Meyer versetzt sich in diese fiktive Situation: "Wir haben nur noch 15 Tänzer im Ballett. Damit müssen wir den Betrieb einstellen. Es war eine schöne Zeit", sagt er. Auch Meyer müsse weg aus Wien, nur weiß er nicht, wie er zum Flughafen kommen soll. Es gäbe kaum noch Taxis. Dem kann das Büro der Taxifunkzentrale 40100 nur zustimmen: Die Kunden, weil mehrheitlich österreichischer Herkunft, seien noch da, aber 90 Prozent der Taxifahrer haben sich verabschiedet.

Der Blick richtet sich weiter auf den Pflegebereich. Zwei Drittel der Mitarbeiter in Seniorenheimen seien Migranten, bei den Bewohnern hingegen weniger als zehn Prozent. Im Caritas-Haus St. Barbara kommen auf eine Pflegerin eineinhalb Senioren. Ohne Personen mit Migrationshintergrund läge der Schlüssel bei eins zu neun, erfährt man im Film. Ökonomin Gudrun Biffl spricht über harte Konsequenzen, wenn es keine Migranten mehr gäbe: Das Pensionssystem sei nicht mehr haltbar, "die Älteren werden sich gegenseitig pflegen müssen", ist sie sich sicher.

"Keine Weltstadt mehr"

Der Politologe Bernhard Perchinig spricht von einer Situation wie nach einem "Neutronenbombenangriff". Die materielle Struktur würde erhalten bleiben, doch es fehlen die Menschen. Die Gemeindebauten würden zu Seniorenwohnheimen werden und Wien wäre keine Weltstadt mehr, betont er. Mit schwerwiegenden Folgen wären auch die Bau-Branche, Reinigungsfirmen sowie Spitäler konfrontiert. Vor allem Jobs mit geringem sozialem Prestige wären kaum noch besetzt.

Zurück in der Realität: In der Wirtschaft würde gelungene Integration gelebt werden, sagt Ali Rahimi, Obmann des Vereins "Wirtschaft für Integration" und: "Migranten schaffen und sichern Arbeitsplätze", ist er überzeugt. Es sei aber wichtig, die Ängste der Alteingesessenen ernst zunehmen, denn "nicht jeder Einwanderer ist ein Engel".

Münire Inam erzählt über die Produktion des Films, bei der ihr auffiel, dass diejenigen, die kein gutes Wort über Migranten verloren haben, bei der Frage, was sie davon halten würden, wenn es in Wien keine Migranten geben würde, zumeist einsilbig wurden. Dies sei bezeichnend für die Wiener Mentalität, weiß Herbert Sommer, Hausmeister in Simmering. "Zuerst die Raunzerei und dann kommt man drauf, dass es vielleicht eh nicht so schlecht ist." Laut seiner Erfahrung kann die Distanz zwischen Migranten und Nicht-Migranten häufig über Gespräche verringert werden. Die geringe Toleranzschwelle führt er auf den niedrigen Bildungsstand vieler zurück. Das Wichtigste für die Stadt wäre daher mehr Investition in Bildung, sagt er.

Das sieht auch Bernhard Perchinig so. Schulen fokussieren mehr auf die Schwächen der Schüler als auf ihre Stärken, kritisiert der Politologe. Bildung ist spannend für das Leben und könne Spaß machen, "dieser Ansatz fehlt aber in Österreich". Weiters würde in der Bevölkerung die Zeit des Wirtschaftswunders in der Nachkriegszeit als Vorbild dienen, als es kaum Migranten in Österreich gab, Wien aber auch noch eine graue Stadt war. Die heutige Wiener Version mit vielen verschiedenen Sprachen in der Straßenbahn gefalle ihm deutlich besser. Von der Vielfalt profitiert auch die Wissenschaft. Internationale Kollegen würden ihm etwa immer wieder auf Gewissheiten hinweisen, die er selber nicht hinterfragt.

Sie werden "geduldet"

Für den Soziologen Kenan Güngör ist der "Alltag schon viel fließender als die Narrative im Kopf". Da lägen Medien und die Politik hinter dem Volk zurück, behauptet er. Probleme aufgrund der Herkunft seien auch vielen Schülern fremd. Erst außerhalb der Schule werden sie durch Politik und Medien damit konfrontiert, dass sie geduldet werden. Nur wenn es eine Verwertung für diese Menschen gibt, dann sind sie willkommen, bekommen sie zu hören. Ein Großteil der Nicht-Migranten würde auch auswandern, wenn es keine Migranten mehr gäbe. Dennoch: Obwohl viele Menschen rational verstehen, dass Migranten in der Gesellschaft gebraucht werden, seien viele auf der emotionalen Ebene noch nicht so weit.