Zum Hauptinhalt springen

Die unbekannte Migration

Von Simon Rosner

Politik

Anzahl der EU-Ausländer in Österreich hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt.


Wien. Ein paar Jahre noch, dann wird Patrick Rampelotto sein halbes Leben in Österreich verbracht haben. Vor 15 Jahren ist er zum Studieren aus Südtirol nach Wien gezogen, wo er noch heute als Künstler und Designer lebt. "Ich habe immer seltener das Gefühl, dass ich in einem anderen Land bin", sagt Rampelotto. Als er seinen Heimatort verließ, gingen auch fast alle seiner damaligen Freunde weg. "Von vielleicht 15 ist einer geblieben", erinnert er sich. Sie haben sich in alle Richtungen zerstreut, in italienische Universitätsstädte, in die Schweiz oder nach Österreich.

Laut aktuellen Zahlen der Statistik Austria ist Rampelotto einer von 18.796 Italienern, die gegenwärtig in Österreich leben. Vor einem Jahr waren es noch um 1759 weniger, was einen Anstieg von zehn Prozent bedeutet. Es entspricht dem durchschnittlichen Zuwachs der Zuwanderung aus den EU-Staaten, aus denen sich 2012 netto 39.000 Menschen in Österreich angesiedelt haben. Aus allen anderen 166 Ländern zusammen kam im Jahr 2012 nicht einmal ein Drittel davon.

Während also die durch Gesetze gesteuerte Zuwanderung aus Drittstaaten weitgehend zum Erliegen gekommen ist und sich etwa auch die Rot-Weiß-Rot-Karte bisher eher als Flop erwies, hat sich die Anzahl der hier lebenden EU-Bürger dank Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit in den vergangenen zehn Jahren auf insgesamt 429.539 Personen mehr als verdoppelt.

Den Zahlen zum Trotz wird dieses Faktum selten thematisiert. Auch ist wenig über die Motive der Wanderungen bekannt. EU-Migranten sind überproportional gut ausgebildet, das weiß man, sie sind selten arbeitslos, verdienen annähernd so gut wie Österreicher. Doch obwohl die Migrationsforschung im breiten Spektrum der Sozialwissenschaften ein intensiv bearbeitetes Feld darstellt, fehlen qualitative Untersuchungen zu EU-Migration, wie auch Heinz Fassmann, Vizerektor der Uni Wien und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung in der Akademie der Wissenschaften, bestätigt: "Es wird nicht problematisiert, daher gibt es auch weniger Studien."

Keine Beschwerden

Die Wiener Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger hat ein Projekt zur öffentlichen Wahrnehmung von Zuwanderung geleitet. Dabei zeigte sich, dass in Österreich und sechs weiteren Ländern die Anzahl der Beschwerden über EU-Migranten sehr gering war. "Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass die Immigration aus EU-Staaten überhaupt nicht politisiert wird", heißt es in der Studie.

Zum Teil verändert sich auch die Sicht auf bestimmte Migrantengruppen, wie das Beispiel der polnischen Zuwanderung zeigt. Als 1981 fast 30.000 Polen nach Österreich flüchteten, sei das Thema Asyl hierzulande zum ersten Mal groß thematisiert worden, erzählt Rosenberger. Mittlerweile stehen die polnischen Migranten prototypisch für gelungene Integration, wie auch Studien belegen. Keine andere Migrantengruppe verfügt über so viele Sozialkontakte zu Österreichern wie die Polen.

Seit zwei Jahren genießen die acht osteuropäischen Staaten der EU-Erweiterung von 2004 die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit, womit die polnische Zuwanderung überhaupt nur noch ein Segment der Unionswanderbewegungen darstellt - und die wird eben kaum diskutiert. "Wo sich die rechtliche Definition verändert, verändert sich auch das Problemverständnis", sagt Fassmann.

Die mit Abstand größte Gruppe der hier lebenden EU-Bürger sind freilich die Deutschen. Allein in Tirol sind es mehr als 27.000, etwas mehr in Wien und insgesamt 160.000. Dass jeder Vierte zum Studieren kommt, war und ist zumindest in einigen Fächern problematisch, etwa bei Medizin. Doch auch in diesem Fall unterschied sich die politische Debatte spürbar von anderen Ausländerdiskussionen: Sie war sachlich, kaum emotional oder gar mit xenophoben Untertönen.

Deutsche auf jeder Hütte

Während die deutsche Bildungsmigration die heimischen Unis vor Herausforderungen stellt, wäre in Tirol das Gastgewerbe ohne deutsche Arbeitskräfte nicht mehr vorstellbar. Um 1998 begann das Arbeitsmarktservice Imst, in Ostdeutschland nach Fach- und Hilfsarbeitern für den Tourismus zu suchen. "Wir konnten relativ rasch jüngere Leute finden, dann sind andere Bezirke auf den Zug aufgesprungen", erzählt Erwin Klinger, Leiter des AMS Imst. "Heute findet man kaum eine Berg- und Hüttengastronomie, in der kein Deutscher arbeitet."

Dass Deutsche nicht nur zum Skifahren kamen, sondern auf einmal Arbeitskollegen waren, habe auch das sehr spezielle Verhältnis der Tiroler mit dem nördlichen Nachbarn verändert, glaubt seine Kollegin Andrea Schneider vom AMS Schwaz. "Die Rückmeldungen waren immer positiv. Wenn man mit Personen näher zu tun hat, fallen Vorurteile ab."

Für Migrationsforscher Heinz Fassmann illustriert das Beispiel Tirol die Funktionstüchtigkeit des EU-Arbeitsmarkts. "Das ist ein Signal, dass diese Idee nicht falsch ist. Die Kellner in Tirol verlassen strukturschwache Regionen und helfen, den Allokationsprozess am Arbeitsmarkt zu verbessern."

Die Krise der südeuropäischen Länder hat zuletzt wieder einiges in Bewegung gebracht, vor allem nach Deutschland sind vermehrt Spanier und Griechen ausgewandert, und auch in Österreich verzeichneten diese Nationalitäten einen signifikanten Anstieg von mehr als 20 Prozent, auch wenn die absoluten Zahlen nach wie vor gering sind. "Es hilft dem österreichischen und deutschen Arbeitsmarkt und entlastet den griechischen und spanischen. Später gehen sie wieder zurück. Es gibt keine Verlierer", sagt Fassmann.

Wenig Zusammenarbeit

Wirklich steuerbar ist die EU-Zuwanderung allerdings nicht, nur indirekt durch Anwerbekampagnen wie jenen aus Tirol. Doch die war eine Ausnahme, international wird kaum gescoutet. "Da ist prinzipiell viel mehr drin", sagt Marc Bittner von der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung. "Wien und Bratislava wären ein prädestinierter Raum für eine gemeinsame Arbeitsmarktbewirtschaftung." Er nennt Malmö und Kopenhagen als Vorbild. Dort werde grenzüberschreitend zusammengearbeitet. "Man kann nur neidisch hinaufblicken."

Auch in Tirol haben sich die Werbetouren aufgehört. Bewerbungen trudeln auch so ein, Tirol als Arbeitsort ist in Deutschland mittlerweile bekannt genug. Und seit Mai 2011 kommen die Bewerbungen auch aus Ungarn und Tschechien. "Bei Hilfskräften stellen wir einen Wettbewerb fest, bei Fachkräften wie Köchen ist noch Potenzial da", sagt Schneider.

Anfang 2014 laufen die Übergangsfristen für Rumänen und Bulgaren aus, dann gilt auch für sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Befürchtungen vor den Folgen gehen in die gleiche Richtung wie jene vor 2011, als die Beschränkungen für Osteuropa fielen, doch diese Annahmen traten nicht ein.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut hat die damaligen Prognosen, die bis zu 40.000 Migranten jährlich allein aus Osteuropa vorhergesagt hatten, mit der Realität verglichen: Es kamen nur zwischen drei- und fünftausend, und die Bewegungen hatten laut Studie "auch nur geringe Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit und Löhne der Einheimischen".

Asymmetrie als Problem?

Auf Rumänien und Bulgarien lasse sich diese Erfahrung nicht so einfach übertragen, da das Lohnniveau dort noch deutlich niedriger ist. "Diese Asymmetrie kann schon ein Problem werden", sagt Fassmann. Er verweist dabei auch auf die nicht geklärte Frage, ob und ab wann EU-Bürger anderswo als im Herkunftsland Anspruch auf Sozialleistungen haben. "Juristisch sind da einige Dinge im Fluss", sagt Fassmann.

Den Ängsten der reichen Staaten vor Sozialmigration stehen die Sorgen von Rumänien und Bulgarien gegenüber, dass die Bildungselite wegzieht. Die besten Köpfe seien ohnehin schon weg, glaubt Lukas Marcel Vosicky, der Generalsekretär der Österreichisch-Rumänischen Gesellschaft. Er verweist auf die Volkszählung von 2011, laut der Rumänien nur noch 19 Millionen Einwohner hat, 2001 waren es noch 21 Millionen.

Doch von einem Wegzug ist auch Österreich betroffen, wenn auch nur in geringem Ausmaß, die Nettoabwanderung liegt jährlich bei etwa 5000 österreichischen Staatsbürgern. "Wir haben diesen negativen Saldo seit Jahren und wissen nicht sehr viel über jene, die nicht mehr zurückkommen", sagt Fassmann. Auch hier fehlt es an Forschung.

Dorothea Siegl ist eine, die ging. Einfach so, vor vier Jahren, und das ausgerechnet nach Spanien. "Aus Langeweile, die ich für meine Zukunft in Wien gesehen habe", sagt sie. "Ich bin ohne Plan gegangen, bin weiterhin ohne Plan und denke nicht, dass ich ewig hierbleiben werde." Zu Beginn hat Siegl in einem internationalen Call-Center gearbeitet, "mittlerweile habe ich eine Arbeit gefunden, die mich auch zufriedenstellt, mir das Überleben sichert und in der ich mich in Österreich nie gesehen hätte." Siegl ist Deutschlehrerin geworden.