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Sanierung der Kassen entpuppt sich als Mär

Von Reinhard Göweil

Politik

WGKK warnt: "Ohne Gegenmaßnahmen ungebremst in weiteres Minus".


Wien. "Entgegen der in den letzten Wochen medial verbreiteten Meldung über die erfolgreiche Sanierung der Gebietskrankenkassen, die offensichtlich und ausschließlich auf eine Gesamtbetrachtung aller Träger abstellt, besteht im Einzelfall und konkret für die Wiener Gebietskrankenkasse die Gefahr, dass sie ohne unterstützende Gegensteuerungsmaßnahmen ungebremst in ein weiteres Minus rutscht."

Das schreibt die Kontrollversammlung (also der Aufsichtsrat) der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) in einer Resolution vom 14. März. Mit gutem Grund, denn die Kasse ist - allen Beteuerungen der Sozialversicherungsführung zum Trotz - dabei, gegen die Wand zu fahren. Die verkündeten Überschüsse gibt es nur nach diversen Rettungsmaßnahmen des Bundes - und die sind befristet. Die Kontrollversammlung der WGKK schreibt dazu wörtlich: "Diese Überschüsse sind allerdings nicht das Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit! Dieses ist bedauerlicherweise konstant negativ (2011: 97,9 Millionen Euro; 2012: 90,3 Millionen Euro; für 2013 wird von -92,9 Millionen Euro ausgegangen)."

Das steht der offiziellen Lesart diametral gegenüber. "Die Krankenkassen haben bereits in den vergangenen Jahren vorgezeigt, wie so ein Kostendämpfungspfad erfolgreich umgesetzt werden kann", sagte der Chef der Sozialversicherung, Hans-Jörg Schelling, noch am 15. Februar. Damals feierte er, dass alle Gebietskrankenkassen im Plus seien.

Wie so etwas möglich ist, erklärt ein führender Sozialpartner, der namentlich nicht genannt werden will: "Im Gesundheitsbereich wird bei den Zahlen gelogen, dass sich die Balken biegen."

Wien, Kärnten, Burgenland, Steiermark, Tirol im Minus

Nun muss sich keiner der 1,5 Millionen (Mit-)Versicherten der WGKK Sorgen machen, dass seine E-Card plötzlich nicht mehr angenommen wird, beängstigend ist der Befund jedoch allemal. Denn er ist keineswegs auf Wien beschränkt, wie die Jahresergebnis-Zahlen zeigen, die der "Wiener Zeitung" vorliegen. Auch die Gebietskrankenkassen Kärnten (Ergebnis: -35,9 Millionen Euro), Steiermark (-15,8 Millionen), Burgenland (-10,0 Millionen) und Tirol (-3,5 Millionen) geben deutlich mehr aus, als sie einnehmen. Der Verdrängungsmechanismus funktioniert also österreichweit.

Aus dem beschlossenen Konsolidierungspaket der Bundesregierung und der Gesundheitsreform, die im April zur Abstimmung im Parlament ansteht, droht den Krankenkassen aber Ungemach.

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(Grafik zum Vergrößern bitte anklicken.)

Ein Beispiel, um die Komplexität der Gesundheitsfinanzierung zu verdeutlichen: 2009 wurde die Mehrwertsteuer auf Medikamente gesenkt. Nun sind die Kassen nicht vorsteuerabzugsberechtigt, sie zahlen also den Bruttopreis der verschriebenen Arzneien. Dies wird vom Bund in Form einer Pauschale vergütet, die aber unverändert blieb. Die Kassen verdienen dadurch großartig. Ab 2015 ist es damit jedoch vorbei: Dann wird exakt abgerechnet.

Selbstverwaltung wieder einmal auf dem Prüfstand

Für die Krankenkassen ist dies bedrohlich, denn sie sind eben nicht Behörden, sondern selbstverwaltete Körperschaften - kontrolliert von den Sozialpartnern. Im Ernstfall stehen deren Funktionäre in der Haftung wie Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften. So mancher Funktionär trägt sich schon mit dem Gedanken ans Aufhören. Zu fragil wird das Gebilde, zu komplex sind die Strukturen - und zu behäbig ist die Reformgeschwindigkeit.

Denn abseits der Selbstverwaltung spielt natürlich die Politik eine gewichtige Rolle. Im Parlament werden die Sozialversicherungsbeiträge beschlossen, also die Einnahmequelle der Kassen. Und die Politik beschließt auch manche Last: Beispielsweise bezahlen die Krankenkassen das Muttergeld. "Ein Kind zu bekommen ist aber keine Krankheit", ist auch aus der Ärztekammer zu hören.

In Wahrheit kranken die Kassen jedoch an ihrer historisch verständlichen, aber wenig zeitgemäßen Organisationsstruktur. Die Gebietskrankenkasse Oberösterreich hat (inklusive mitversicherter Angehöriger) 1,2 Millionen Versicherte. Sie erreichte 2011 ein positives Ergebnis von 72,7 Millionen Euro. Die Steiermärkische Gebietskrankenkasse hat insgesamt 900.000 Versicherte, ist also um ein Drittel kleiner. Dort gab es aber ein Jahresminus von 15,8 Millionen Euro. "Es ist nicht so, dass in der Steiermark unfähige Leute herumsitzen, das hängt an der Beitragsstruktur der Kassen", ist aus dem Hauptverband der Sozialversicherungen zu hören.

Gesundheitssystem lügtsich in den eigenen Sack

In Oberösterreich gibt es viele gut bezahlte Industrie-Arbeitsplätze, und die Kasse in Oberösterreich hat weniger Ärzte unter Vertrag. Die Steiermark hat schlechter bezahlte Arbeitskräfte (die geringere Sozialversicherungsbeiträge leisten), mehr Pensionisten und mehr Vertragsärzte. In Oberösterreich gibt es dafür ein dichteres Spitalsnetz, dort fangen die Ambulanzen den Mangel an Arztpraxen mit Kassenvertrag ab. Ein hoher Mitarbeiter in der Sozialversicherung, der anonym bleiben will, erläutert dazu: "In Oberösterreich sind dafür die Spitalkosten deutlich höher, aber die trägt das Land, und sie scheinen im Jahresbericht der Gebietskrankenkasse nicht auf."

Lügt sich das Gesundheitssystem also in den eigenen Sack? "Natürlich", sagen Sozialversicherungsexperten aus ÖGB und Wirtschaftskammer beinahe wortident. "Regierung und Parlament sagen: Solange es sich insgesamt ausgeht, lasst uns damit in Ruhe." Im Gesundheitsministerium wird auf die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen verwiesen, auch von dort könnten Impulse kommen. Und damit steckt die Reform im Gestrüpp aus Föderalismus und dessen unterschiedlichen politischen Verhältnissen fest.

Gesundheitsreform wirdim April beschlossen

Ein Gestrüpp, das nach Meinung des Rechnungshofs auch durch die mittlerweile im Ministerrat beschlossene Gesundheitsreform nicht gerodet wird. Der Rechnungshof schrieb in einer Stellungnahme, dass der Entwurf von Gesundheitsminister Alois Stöger "keine Vorschläge für eine Reform der Zuständigkeitsverteilung und Kompetenzbereinigung im Bereich des Gesundheitswesens enthält". Der Entwurf versäume daher, "die im österreichischen Gesundheitswesen allein durch eine Bereinigung der zersplitterten Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern erzielbaren Synergiepotenziale zu heben". Grob gesprochen verteilen sich die Ausgaben einer Krankenkasse zu jeweils einem Drittel auf niedergelassene Ärzte, Medikamente und Spitäler.

In Wien beispielsweise tobt ein Streit zwischen Ärztekammer und Gebietskrankenkasse um diese niedergelassenen Ärzte, der auch mit der Gesundheitsreform nicht beseitigt wird. "Wien braucht im neuen Stadtteil Aspern drei Allgemeinmediziner", heißt es aus dem ÖGB. "Da es ausreichend Ärzte in Wien gibt, muss die Gebietskrankenkasse halt woanders einsparen." Die Ärztekammer kämpft natürlich um jeden Kassenvertrag - bisher mit Erfolg.

"In einem Wahljahr traut sich niemand in der Politik, mit den Ärzten einen ernsthaften Streit anzufangen", ist aus der Wirtschaftskammer zu hören. "Das wäre aber notwendig. Es kann nicht jeder Arzt eine Ordination im 1. Bezirk betreiben." Diese Verhandlungen führt die Wiener Gebietskrankenkasse und ihre - mittlerweile nicht mehr unumstrittene - Obfrau Ingrid Reischl.

Diese ist auch in die Kontrollversammlung der Krankenkasse delegiert, muss die Resolution vom 14. März also kennen. Von Einsparungen ist keine Rede, dafür von neuen Zuschüssen des Bundes. So legt der Bund auf die Versicherungsbeiträge der Pensionisten 80 Prozent drauf. Dieser Betrag soll - so der Wille der WGKK-Kontrollore - angehoben werden. "Die Kontrollversammlung appelliert daher an den Bundesgesetzgeber, . . . die finanzielle Situation der Gebietskrankenkassen . . . dauerhaft zu verbessern."

Gesundheitsministererteilt glatte Absage

Im Gesundheitsministerium will man sich aber die Gesundheitsreform nicht krankreden lassen und erteilt dem eine glatte Absage. "Wir haben nicht vor, etwas zu ändern", sagt der Sprecher von Minister Stöger zur "Wiener Zeitung". "Die Kostendämpfungen wirken, diesen erfolgreichen Weg, den wir beschritten haben, gehen wir so weiter. Es ist ja gelungen, insgesamt eine Milliarde Euro an Schulden abzubauen."

Die betroffenen Gebietskrankenkassen und dabei vor allem die WGKK müssen also ihren beschriebenen Weg, "ungebremst in ein weiteres Minus zu rutschen", selbst verlassen. Im Rahmen der Gesundheitsreform müssen die jeweiligen Länder als Spitalsbetreiber und die Gebietskrankenkassen künftig enger zusammenarbeiten. "Die Gemeinde Wien wird sicher keine Schulden der Gebietskrankenkasse übernehmen, das geht gar nicht", tönt es dazu aus dem Rathaus.

"Vorhandenes Geld reicht, ist aber falsch verteilt"

Bleibt also der mühsame Weg für WGKK-Obfrau Reischl und Kontrollversammlungsobmann Heinz Wollinger (Wirtschaftskammer Wien), mit der Ärztekammer härter zu verhandeln. Und im Rahmen der Gesundheitsreform die Stadt Wien beziehungsweise deren Krankenanstaltenverbund von (wenig realistischen) Kostensenkungen zu überzeugen.

Tröstliches hat die Ärztekammer parat: "Es ist nicht nötig, zusätzliches Geld ins Gesundheitssystem zu pumpen, es muss nur anders verteilt werden." Dazu allerdings reicht der bestehende Ausgleichsfonds, der Überschüsse "reicher Kassen" in die defizitären pumpt, nicht aus. Dazu wäre laut Rechnungshof eine bundesweite Koordination notwendig.

Geld wäre in der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter zu holen. Diese sitzt auf einem Vermögen in Höhe von 600 Millionen Euro. Die Hälfte davon wird auf Gesetzesbeschluss bis 2016 abgeschöpft, bleiben immer noch 300 Millionen Euro. Die Schulden der WGKK liegen bei 150 Millionen Euro - mit stark steigender Tendenz. Ob die Beamtengewerkschaft aber das Geld hergibt?