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"Wir haben viel zu wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung"

Von Bettina Figl

Politik
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Marianne Schulze
© bizeps

Schulze: Gesellschaft schaut weg und auch die Politik "ist völlig überfordert".


"Wiener Zeitung": Der Gesetzesentwurf zum neuen Lehrerdienstrecht liegt vor, was bedeutet das für die Sonderpädagogik?Marianne Schulze: Es gibt noch keine politische Entscheidung. Startbedingung ist, dass allen Lehrern vermehrt sonderpädagogische Kompetenzen vermittelt werden. Und Kinder sollen nicht mehr in Ghettoschulen abgeschoben werden.

Sie sind also für die Abschaffung der Sonderschulen. Was soll mit den Sonderschullehrern geschehen?

Die Expertise wird absolut gebraucht. Wo es kracht, sind Doppelgleisigkeit bei Verwaltungen und Ämtern. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass Lehrer Teil des Prozesses sind. Nicht nur Sonderschullehrer sind Experten, alle Lehrer müssen diese Kompetenzen haben.

In Österreich gibt es immer mehr Sonderschüler?

Ja, die Zahl ist rasant im Steigen begriffen, denn Kinder mit Sprachschwierigkeiten werden vermehrt in die Sonderschule abgeschoben. Und es gibt Experten, die Interesse daran haben, dass das Sonderschulwesen erhalten bleibt. Kärnten ist das einzige Bundesland, wo Sonderpädagogische Zentren von Sonderschulen entkoppelt sind, ansonsten besteht eine strukturelle Abhängigkeit. Die Entscheidung für oder gegen die Sonderschule treffen zwar die Eltern, sie werden aber durch die Experten beraten. Das ist vor allem bei jenen problematisch, die nicht gut deutsch sprechen. Ihnen wird gesagt, die Sonderschule ist das beste für ihr Kind. Dann unterschreiben sie natürlich - oft unwissend, was das bedeutet.

Was bedeutet es für ein Kind, wenn es in die Sonderschule kommt?

Hohe Armutsgefährdung, schlechtere Gesundheitswerte, Abhängigkeit anstatt eines selbstbestimmten Lebens. Aber es geht um mehr: Es wird eine bestimmte Gruppe ausgeschlossen, und das ist ein Symptom dafür, wie wir als Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung umgehen. Auch die Politik ist völlig überfordert, das ist ein Stellvertreterphänomen. Wir haben viel zu wenig Kontakt mit Menschen mit Behinderung. Ob aufgrund einer Scheidung, einer emotionalen Lernschwäche oder einer Behinderung - es gibt kein Kind, das keine Unterstützung braucht.

Österreich hat 2008 die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Was ist seither geschehen?

Es gab drei Diskussionsrunden seitens des Bildungsministeriums, mit dem Ergebnis, dass man weiter diskutieren will. Und man will Inklusionsregionen einführen. Das ist etwas eigenwillig, wir wissen bereits, dass es geht: In Südtirol gibt es keine Sonderschulen, in der Steiermark ist man bei der Integration sehr fortschrittlich.

Warum tut sich dann nichts?

Es mangelt am politischen Willen, wie jede Bildungsdebatte wird auch diese verkrampft und vertrackt geführt.

Zur Person



Marianne Schulze, ist Vorsitzende des Monitoringausschusses zur Überwachung der Einhaltung der UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Österreich hat diese 2008 unterschrieben und sich verpflichtet, ein "inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen" zu gewährleisten.