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Die unsichtbare Generation

Von Solmaz Khorsand

Politik
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Vielen Gastarbeitern der ersten Generation bleibt ein betrübter Blick in die Zukunft.
© corbis

Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt bedeutet für viele Statusverlust.


Wien. "Alles tut weh", sagt die 54-Jährige und massiert sich das Handgelenk. Jahrelang hat die gebürtige Türkin Hotelzimmer geputzt, die Betten aufgeschüttelt und die Badezimmer geschrubbt. Es waren dutzende Zimmer jeden Tag. Jetzt kann sie nicht mehr. Es reicht. "Ich kann nicht einmal einen Liter Wasser heben, es ist mir zu schwer", sagt die vierfache Mutter und schüttelt betrübt den Kopf. Als junge Frau ist sie nach Österreich gekommen, als alte möchte sie jetzt in Pension gehen. Und zwar in dem Land, das sie vor Jahrzehnten als Gastarbeiterin geholt hat.

Sie werden alt, die einst kräftigen Männer und Frauen, die man in den 1960ern und 1970ern zu Tausenden aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich geholt hat. Die schwere Arbeit auf dem Bau und in den Putzkolonnen fordert nun ihren Tribut. Der Körper ist kaputt, und das nicht mit 65, sondern bereits mit 50 Jahren. Und was nun? Was passiert mit den alten Gastarbeitern, die nicht auf ihre Pensionsjahre kommen?

Wie Pferde untersucht

"Wenn ich einen alteingesessenen Österreicher habe, kann ich ihn noch bis zur Pensionierung ins Büro stecken. Das geht bei diesen Leuten nicht", erklärt Marko Kolm, Projektleiter der Beratungsstelle Terra, einer Organisation für ältere Migranten. Die wenigsten Gastarbeiter aus der ersten Generation hätten ausreichende Deutschkenntnisse und Qualifikationen, um in anderen Arbeitsfeldern noch Fuß zu fassen. Das war damals auch nicht gefragt. Kräftig sollten sie sein, nicht sprachbegabt. In Anwerbebüros der Wirtschaftskammer wurden sie in ihren Heimatländern rekrutiert, auf Tuberkulose getestet und geprüft, ob ihre Gesundheit harte körperliche Arbeit zuließ. Wie bei Pferden wurde sogar ihr Zahnstatus untersucht, um sicherzugehen, dass sie dem österreichischen Gesundheitswesen nicht zur Last fallen würden. Lediglich Gäste sollten sie hier sein, nicht Kranke oder gar Pensionisten.

"Diese Generation wurde immer als Personen zweiter Klasse wahrgenommen", sagt Kolm. Terra ist die einzige Einrichtung in Österreich, die sich um die Anliegen dieser ersten Generation von Gastarbeitern kümmert. Seit 2005 betreuen die Mitarbeiter die betagten Männer und Frauen, die jeden Tag in das Büro in der Windmühlgasse 26 im 6. Bezirk auf ihren Gehapparaten hineinzittern. Drei Beraterinnen kämpfen sich hier Jahr für Jahr durch Aktenberge, übersetzen Briefe und Bescheide in die jeweilige Muttersprache ihrer Klienten und versuchen ihnen unter anderem klarzumachen, dass ein Brief einer Behörde nicht immer ein Grund zur Panik sei.

Jeden Tag betreut Dubravka Sedak Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es sind Putzfrauen und Bauarbeiter, die ihre Großeltern sein könnten. Die junge Frau beobachtet, wie gestandene Männer plötzlich nervös wie Schulkinder an ihren Nägeln kauen und wie ihnen der Schweiß ausbricht, wenn Sedak sie bittet, ihren Namen unter ein Formular zu setzen. "Viele sind Analphabeten", sagt sie, "und dann schickt sie das AMS zum Computerkurs. Das bringt nicht viel." Doch wer die AMS-Kurse nicht besucht, verliert das Arbeitslosengeld. So kommt es, dass Analphabeten neben Schulabbrechern und Akademikern Seite an Seite in einer Klasse sitzen und Excel-Tabellen erstellen sollen.

Das AMS weiß, dass diese Generation nicht länger vermittelbar ist auf Österreichs Arbeitsmarkt. Projektleiter Kolm spricht in diesem Zusammenhang von einem "Institutionen-Pingpong": Vom AMS werden die alten Gastarbeiter zur Pensionsversicherungsanstalt (PVA) geschickt. Diese überprüft, ob die Anträge auf Invaliditätspension der Terra-Klienten legitim seien. In der Regel werden die Anträge abgelehnt, oft versucht man, die Antragsteller in Rehabilitationsmaßnahmen in anderen Feldern umzuschulen. Also zurück zum AMS. Im Fall der ehemaligen Gastarbeiter sei das aber verlorene Liebesmüh, da sie nicht über Deutschkenntnisse verfügen, sagen die Terra-Mitarbeiter.

Kein Polster für die Pension

"Diese Gruppe hat ein Gefühl der Entwertung", erklärt der Soziologe Christoph Reinprecht, der seit Jahren an der Universität Wien zum Thema Migration und Alter forscht. "Die Anerkennung durch die Gesellschaft ist ein zentraler Punkt. So paradox es klingt, aber solange ich der Gastarbeiter bin, bin ich der Gastarbeiter. Und das ist ein Status."

Weder die betroffenen Männer und Frauen noch die österreichische Politik haben sich darum gekümmert, was passieren wird, wenn diese Menschen einmal alt, krank und gebrechlich werden. "Diese Generation hat keinen Plan B", sagt Terra-Beraterin Ksenija Suznjevic. Die wenigsten Klienten haben einen finanziellen Polster für die Pension angelegt. Die Gründe sind unterschiedlich. Viele dachten, sie würden in ihre Herkunftsländer zurückkehren, kauften Eigenheime in ihrer Heimat und schickten ihr verdientes Geld ihren Verwandten. In das Zuhause in Wien haben sie nicht investiert. Bis heute leben viele alte Gastarbeiter in jenen Substandardwohnungen, die sie vor Jahrzehnten billig gemietet haben, mit undichten Fenstern und Toiletten auf dem Gang. Erträglich in der Jugend, aber eine Tortur im Alter.

Kinder nur bedingte Stütze

Die Annahme, dass sich jene Generation im Alter auf ihre Kinder verlassen könne, sei längst überholt, wissen die Beraterinnen. Oftmals sprechen die Kinder besser Deutsch als ihre Muttersprache und können die Anliegen der Eltern nicht adäquat übersetzen. Als finanzielle Stütze könnten sie auch nicht herhalten. "Die Frage ist: Wie fühlen sich die Eltern in dieser Situation, wenn sie 30 Jahre gearbeitet haben und plötzlich den Sohn um ein paar Almosen bitten müssen", erklärt Suznjevic.

Mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt verschwindet die erste Generation der Gastarbeiter aus der öffentlichen Wahrnehmung. Sie vermeiden den Gang in die Behörden, da sie die Sprache nicht sprechen und die Beamten keine Zeit und Geduld haben, einem älteren stotternden Ausländer Auskunft zu geben. Was übrig bleibt, sind die eigenen vier Wände. Es ist eine unsichtbare Generation, die von Jahr zu Jahr größer wird. Die passenden Institutionen fehlen, erst vor zwei Jahren wurden Terra die Subventionen gekürzt. Aus vier Beratern wurden plötzlich drei. Und die Aktenberge wurden immer höher.