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Ein schwaches Regime als Boden für den "Anschluss" 1938

Von Katharina Schmidt

Politik
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Austrofaschismus im Visier: Emmerich Tálos.
© Andy Urban

Emmerich Tálos legt erste umfassende Monografie zum Austrofaschismus vor.


Wien. Andere Pensionisten gehen fischen oder fahren auf Urlaub. Nicht so Emmerich Tálos. Seit Oktober 2009 ist er als Politikwissenschafter emeritiert - und im Jänner 2010 hat er sich für ein dreiviertel Jahr ins Archiv begeben, um dort die bisher unsortierten Dokumente der Vaterländischen Front, die erst Ende 2009 aus Moskau zurückgekommen sind, zu durchforsten. Von 430 Kartons hat er 180 bis 200 im Alleingang aufgearbeitet. Auf Basis der dort gewonnenen Erkenntnisse und umfangreicher Sekundärliteratur hat Tálos die erste umfassende Monografie zur Geschichte Österreichs in der Zeit des Austrofaschismus vorgelegt.

In dem mehr als 600 Seiten starken Werk schildert der Politikwissenschafter alle Aspekte des austrofaschistischen Herrschaftssystems, beginnend von den Entwicklungen, die ihm vor 1933 den Boden bereiteten, bis zum "Anschluss" im März 1938. Denn der "Anschluss" an Hitlerdeutschland ist laut Tálos ohne das Verständnis der "umstrittensten Phase der politischen Entwicklung Österreichs im 20. Jahrhundert" nicht zu begreifen. Der erst vor kurzem begangene 75. Jahrestag wäre daher ein guter Anlass gewesen, "sich der inneren Gründe dafür zu erinnern", sagte er am Dienstag anlässlich der Präsentation des Buches. Doch dies sei nicht geschehen.

In acht Kapiteln widmet sich Tálos etwa der Frage nach der Definition des Regimes unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg. So hält er den Begriff "Ständestaat" für unzutreffend: "Von einem Ständestaat kann in der Zeit von 1933 bis 1938 keine Rede sein." Denn, so schreibt Tálos, es sei zwar das Ziel gewesen, durch die ständische Organisierung gesellschaftlicher Interessen Harmonie in der Gesellschaft zu erzeugen, in der Realität sei aber die geplante berufsständische Ordnung "auf den Zwischenschritt der Etablierung von staatlich abhängigen und kontrollierten Interessensbünden beschränkt" geblieben. Tálos kommt zu dem Schluss, dass der Begriff "Austrofaschismus" der einzig adäquate sei. Als Gründe nennt der Autor unter anderem die Ähnlichkeiten mit dem italienischen Faschismus und die Eigendefinition als österreichischer Faschismus.

"Erbärmlich und unbeliebt"

Zu den weiteren Themen gehören etwa der Antisemitismus und die Unterdrückung der Frauen im Austrofaschismus, aber auch die Frage nach dem Rückhalt des Regimes bei der Bevölkerung. Und dieser war denkbar schlecht. Internen Dokumenten der Vaterländischen Front zufolge waren 1936 überhaupt nur 50 Prozent der Österreicher politisiert. Und davon, so schätzten die Machthaber, war nur die Hälfte "politisch verlässlich". Oder, wie es in diesem Zusammenhang der Historiker und Generaldirektor des Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner, drastisch formulierte: Das austrofaschistische Regime war "kleinlich, erbärmlich, erfolglos, unbeliebt, autoritär und repressiv".