"Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben": Alt-Kanzler Vranitzky will sich im Gespräch mit Neisser (l.) und Steger (r.) nicht völlig dem Pessimismus verschreiben. - © Robert Newald
"Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben": Alt-Kanzler Vranitzky will sich im Gespräch mit Neisser (l.) und Steger (r.) nicht völlig dem Pessimismus verschreiben. - © Robert Newald

Wien. Wenn Vorgänger auf ihre Nachfolger zurückblicken, wandelt man stets am Abgrund einer "Früher war alles besser"-Suada. Genau dies nicht zu tun, war ausdrücklicher Wille der Runde prominenter ehemaliger Politiker von SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grünen. Ganz ist es nicht gelungen, es geht ja schließlich um Österreich.

"Wiener Zeitung": Wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig über die Innenpolitik geärgert?

Norbert Steger: Das Alter bringt es mit sich, dass etliches an einem abprallt. Was mir mehr missfällt, ist, dass die großen Bögen in der Politik nicht mehr sichtbar sind; es hat schon einen Grund, dass sich die Menschen von den Politikern und den Parteien abwenden. Ich war ja auch nicht perfekt, aber die Politiker müssen endlich verstehen, dass sie selbst schuld sind, wenn ihre eigene Handschrift von den Bürgern nicht mehr erkannt wird. Unsere Politik wird viel zu sehr von der Tagespolitik beherrscht, das größere Ganze gerät aus dem Blick. Das gilt besonders für die Europapolitik.

- © Robert Newald
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Terezija Stoisits: Die Politik will leider nicht verstehen, dass die Bevölkerung es satt hat, von Entscheidungen ausgeschlossen zu werden. Die einzige sogenannte demokratiepolitische Maßnahme der letzten Jahre war die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre mit der Begründung, mehr Zeit für die Lösung der großen Probleme zu erlangen. Und wo stehen wir jetzt? Der Glaubwürdigkeitsverlust in die Politik ist größer als je zuvor. Die Leute wollen sich einmischen, man lässt sie aber nicht.

Franz Vranitzky: Tatsächlich ist es schade, dass die zwei Regierungsparteien wichtige Politikfelder nicht intensiv bearbeiten und die Bürger dabei mitnehmen. Die Folge ist, dass Randgruppen diese Themen mit Ansichten besetzen, die, um es vorsichtig zu sagen, nicht sinnvoll sind. Europa ist sicher ein Beispiel, hier gebe ich Steger recht. Österreichs Politik ergeht es hier so wie fast allen anderen EU-Staaten: Es gelingt der Politik auch nach so vielen Jahren nicht, ihr nationalstaatliches Korsett abzuwerfen und sich den viel größeren Mantel der europäischen Gemeinsamkeit überzustreifen.

Stoisits: Ja, Globalisierung und globale Krisen brauchen nun einmal gemeinsame Strategien und daher mehr Europa und nicht weniger. Es ist verantwortungslos, den Bürgern vorzumachen, Europa sei das Problem. Die meisten Politiker glauben immer noch, Europa liege im Ausland.

Der Verlust der großen Linien, das Abrutschen ins Kleinkarierte: Hat bisher nicht jede Generation so auf ihre Nachfolger zurückgeblickt? Wahrscheinlich werden Faymann und Spindelegger in zwanzig Jahren ganz ähnlich formulieren.

Heinrich Neisser: Wenn man feststellt, dass sich die Politik geändert hat, muss man dazu sagen, dass sich auch die Menschen geändert haben. Ich will nicht zu denen gehören, die zurückblicken und behaupten, alles sei schlechter geworden, das stimmt auch nicht. Und trotzdem muss ich die Kritik von Steger und Vranitzky bestätigen, ja sogar noch verstärken: Es fehlen nicht nur die großen Linien, die Politik hat das Nachdenken verlernt. Wir haben einen Grad an Oberflächlichkeit erreicht, der bedrückend ist: Politik ist nur noch Entertainment ohne Inhalt. Und es ist wahr, dass Europa verschwiegen wird. Man geht dem Thema einfach aus dem Weg.

Steger: Lassen Sie mich noch ein bezeichnendes Beispiel einbringen: Neisser gehört zu jenen, die ein anderes Wahlrecht fordern, bei dem die Wähler direkter mitbestimmen können als derzeit, wer regiert. Ich sehe das zwar anders, aber dies spielt in diesem Fall keine Rolle. Entscheidend ist, dass es hier um eine eminent wichtige Frage geht. Aber die Politik weigert sich, darüber ehrlich zu diskutieren.

Warum ist das so, wie haben sich Parteien und Politiker verändert?

Steger: Das hängt mit dem Auswahlsystem von Politikern zusammen. Die Aussicht auf die Ochsentour zieht die klugen Köpfe schon lange nicht mehr an.

Vranitzky: Ich will nicht so tun, als ob ich alles besser wüsste, aber meinem Eindruck nach nehmen die Politiker bei den wirklich wichtigen Themen die Wähler zu wenig mit. Man darf das nicht auf Marketing und Kommunikation beschränken, man muss ständig mit der Bevölkerung kommunizieren. Weil das kaum mehr geschieht, sind vielen zentrale Zusammenhänge nicht mehr bewusst. Das wird zum Teufelskreislauf: Weil den Menschen niemand mehr die Zusammenhänge erläutert, blocken sie bei solchen Themen ab, was dazu führt, dass die Politik diese Themen erst gar nicht anspricht.

Mit Verlaub: Die Bevölkerung von politischen Themen fernzuhalten, war das Erfolgsrezept nach 1945. Kompromisse wurden von den Sozialpartnern hinter verschlossenen Türen ausverhandelt, öffentliche Debatten waren die Ausnahme. Der Umgang mit der Neutralität ist ein Beispiel, Pensionen, Schulden oder Integration sind weitere.

Vranitzky: Ich will nicht alles Vergangene schlechtreden. Dass dieses Land ökonomisch, sozial und ökologisch gut aufgestellt, kann niemand bezweifeln. Deshalb halte ich es mit dem Ökonomen Karl Aiginger: Wir dürfen uns damit nicht begnügen und müssen an morgen und übermorgen denken. Und zur Neutralität: Wir dürfen nicht übersehen, dass diese Frage in den 50er Jahren auch emotional einen ganz anderen Stellenwert besaß als jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Aber auch hier gilt: Man muss die Menschen mitnehmen. Dazu gehört auch, dass wir uns von Leopold Kohrs Diktum "small is beautiful" endlich verabschieden. Der Satz hat heute keine Bedeutung mehr. Das gilt auch für die Forderung, wir müssten unsere Souveränität verteidigen. Wo wir eingebettet sind in Europa oder in die Welt, sind wir nicht mehr souverän. Aber durch ein geeintes Europa schaffen wir eine neue, für einen Kleinstaat viel plausiblere Souveränität. Weniger Abhängigkeit von russischem Gas geht etwa nur durch mehr europäische Integration.