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Hier wollen alle rein

Von Katharina Schmidt

Politik

Ein historischer Rundgang durchs Parlament - Anekdoten inklusive.


Wien. Hier stehen wir nun. Die einen wollen unbedingt hinein, die anderen wollen keinesfalls hinaus, wir gehen es heute entspannt an und lassen uns gemütlich durchführen. Das Objekt der Begierde: das Parlament, Arbeitsplatz der 183 Abgeordneten, die am Sonntag für den Dienst an der Republik dort hineingewählt werden, symbolträchtiger Prunkbau am Ring, architektonisch und historisch voller Geheimnisse - und politisch manchmal ebenso unverständlich.

Ein bisschen Licht ins Dunkel soll nun Andreas Pittler bringen. Seit bald 20 Jahren arbeitet der Historiker und Autor zahlreicher Monografien und historischer Kriminalromane im Parlament, oft hat er schon Besuchergruppen durch den altehrwürdigen Bau geführt. Nun begleitet er die "Wiener Zeitung" auf einem Streifzug durchs Hohe Haus - einmal abseits von Nationalratssitzungen, Untersuchungsausschüssen und Pressekonferenzen.

Wir starten beim Meister selbst: Durch die Schleuse an den stets strengen, aber charmanten Sicherheitsbeamten vorbei geht es zum Modell des Parlaments in den Vorraum - Startpunkt jeder Führung. Architekt Theophil Hansen, nach dessen Plänen das Haus 1874 bis 1883 errichtet wurde, hatte ein Problem. Er musste zwei exakt gleiche Trakte für Herren- und Abgeordnetenhaus bauen, damit sich niemand benachteiligt fühlte. Das ist mit ein Grund dafür, dass selbst Parlamentsveteranen ab und zu die Orientierung verlieren. Zu den Errichtungskosten gibt es unterschiedliche Angaben, es ist von bis zu 24 Millionen Goldkronen die Rede. Das würde rund 200 Millionen Euro entsprechen - weniger als die Hälfte der vom Rechnungshof erwarteten 500 Millionen Euro für die geplante Sanierung.

Neutraler "Meeting Point"

Seinen Traum, das Parlament rundum mit Säulen zu verzieren, konnte Hansen aus Kostengründen nicht verwirklichen. So blieb es bei den 24 Säulen aus Salzburger Marmor, die - jede für sich 16 Tonnen schwer - die Säulenhalle, den "neutralen Meeting Point" zwischen den beiden Haushälften schmücken. Wir haben mittlerweile die große, mit rotem Teppich bespannte Treppe erklommen und stehen im sogenannten Oberen Vestibül: auf der einen Seite die Säulenhalle, auf der anderen die riesige Glastüre, die den Weg auf die Parlamentsrampe freigibt. Früher war das der Haupteingang ins Hohe Haus, heute wird die Tür nur noch für den Bundespräsidenten, Staatsgäste oder am Nationalfeiertag für den Tag der offenen Tür geöffnet.

Ungezügelte Leidenschaften

Hansen, der gebürtige Däne, der mehrere Jahre in Athen verbrachte, war ganz offensichtlich ein Fan der Allegorie: Wohin man schaut, sieht man Andeutungen, etwa die Rossebändiger vor dem Haus, die die Abgeordneten - bis heute wenig erfolgreich - daran erinnern sollten, ihre Leidenschaften zu zügeln. Über dem Eingang zur Säulenhalle prangt die Austria, der von Kriegern, Bauern und holden Damen gehuldigt wird. Profaner geht es - man glaubt es kaum - im historischen Sitzungssaal zu. Denn auch wenn der heute viel schöner und größer als der Nationalratssitzungssaal ist, war er von Hansen für den niedrigeren Stand, das Abgeordnetenhaus, geplant. Dort, wo heute nur noch die Bundesversammlung zusammentritt und Gedenkveranstaltungen stattfinden, sollten sich die für sechs Jahre gewählten Volksvertreter mit den Alltagsproblemen der riesigen Monarchie herumschlagen. Daher sind an der Wand auch "nur" die weniger feingeistigen römischen Politiker abgebildet, während im alten Herrenhaus die griechischen Philosophen die Herren zu gedanklichen Höchstleistungen anspornen sollten.

Der Saal, dessen Kuppel aus einem einzigen Stück Glas aus Gablonz in Tschechien besteht, wird gerade renoviert, einige Sitzreihen und die Regierungsbank sind ausgebaut, die Arbeiter rücken mit Staubsaugern der Patina auf den Logen zu Leibe. Im Zuge der Arbeiten hat man in den von Hansen angelegten Lüftungsschlitzen im Boden hunderte Papiere gefunden, die nun von einer eigenen Historikerkommission analysiert werden. Damals warfen die Abgeordneten nach der Sitzung ihre Zetteln einfach auf den Boden, dem Putztrupp dürften dann gelegentlich einige in den Lüftungsschlitz gerutscht sein. So wird der Abfall aus 40 Jahren Parlamentarismus Aufschluss über die Kultur im Hohen Haus geben. Die war bunt, schließlich gehörten zu den "im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern" elf Nationen, die Parlamentarier durften in acht Sprachen ihre Reden halten - sofern sie eine beglaubigte schriftliche Übersetzung vorlegten. Hier wurde das Filibustern erfunden: Man durfte so lange reden, wie man wollte, wenn man sich nicht wiederholte. Was manchen Mandatar zu einer Lesung aus der Bibel verleitet haben soll.

Ode an den Theophil

Und dann doch wieder ein bisschen Pathos: Das Fries von August Eisenmenger über dem Präsidium zeigt Phidias, der Perikles sein Modell des Zeus - eines der sieben antiken Weltwunder - präsentiert. Eisenmenger ließ Phidias das Gesicht von Theophil Hansen angedeihen, Perikles jenes von Kaiser Franz Josef.

Die Tür gegenüber führt zurück in die Moderne: Wo einst der Speisesaal für das Unterhaus angesiedelt war, befindet sich nun das Abgeordnetensprechzimmer. Dort ist auch abseits der Wahlkampfzeiten einmal im Monat ein demokratiepolitisches Schauspiel zu beobachten: Abgeordnete treffen auf das Wahlvolk. Jeder Staatsbürger hat nämlich das Recht, während der Plenarsitzungen seinen Wahlkreisabgeordneten aus dem Plenarsaal holen zu lassen und mit ihm ein dringendes Anliegen zu besprechen.

Meistens unter sich sind die Abgeordneten wieder einige Türen weiter. Im Budgetsaal, ursprünglich geplant als Empfangssalon des Kaisers, finden nicht nur die Feinarbeiten am Budget statt, hier tritt auch der wichtigste Ausschuss zusammen: der Hauptausschuss, dessen Vorsitz den Nationalratspräsidenten vorbehalten ist und in dem die Klubchefs sitzen. Er war bis zum EU-Beitritt Österreichs etwa für die Preisgestaltung bei Monopolwaren wie Tabak oder Salz zuständig. "Man hat immer gewusst, wann die Zigaretten teurer werden", erzählt Pittler augenzwinkernd. Heute noch kann der Hauptausschuss den Standpunkt eines Regierungsmitglieds beim Ministerrat in Brüssel steuern - eine Mitsprachemöglichkeit, die europaweit nur wenige Parlamente haben.

Zerfallendes Provisorium

Vom Budgetsaal zweigen wir ab in den "kalten Gang", ein schmuck- und lichtloser Flur, der erahnen lässt, wie die weniger repräsentativen Teile des Parlaments aussehen. Durch ein Kopierzimmer kommen wir plötzlich ins Couloir, den Gang hinter dem Plenarsaal. Dort lüften die Parlamentarier während der Plenarsitzungen ihre Hirne aus, von dort zweigen mehrere kleine Türen in Besprechungszimmer und Telefonierkammerl ab, die den Charme der 1950er versprühen. Das Couloir wurde geschaffen, als der zerbombte Saal nach dem Zweiten Weltkrieg in verkleinerter Form neu aufgebaut wurde -"nur" 192 Abgeordnete hätten hier Platz. Von den Zeitgenossen wurde der Saal als Provisorium gesehen, sagt Pittler. Doch mittlerweile harrt das in die Jahre gekommene Provisorium einer Generalüberholung. Die braunen Ledersitze sind denkbar unbequem, die abgewetzten Stellen werden, seit die parlamentseigenen Polsterer eingespart wurden, nur noch notdürftig mit Klebeband geflickt. Zwei Mal sei bei den im Boden verankerten Sesseln die Achse gebrochen - mit erwartbaren Folgen für den darauf befindlichen Mandatar. Die Pulte sind abgegriffen, viele der Namensschilder wohl schon nach der letzten Sondersitzung abmontiert worden.

Panne mit Folgen

Jeder Parlamentarier verfügt immerhin über eine verschließbare Schublade - auch damit keine Dokumente verwechselt werden können. 1933 tauchten bei einer Abstimmung zum Eisenbahnerstreik plötzlich zwei Stimmzettel des sozialdemokratischen Abgeordneten Simon Abram auf. Bis heute ist unklar, ob er für seinen Nachbarn abstimmen wollte und den falschen Zettel erwischt hat oder ob er mit Absicht die Abstimmung zu Fall bringen wollte. Nationalratspräsident Renner musste das Abstimmungsergebnis korrigieren. Trotzdem galt ein entsprechender Antrag der Großdeutschen als angenommen, es kam zu Protesten der Christlichsozialen. In der Folge legten alle drei Nationalratspräsidenten ihre Ämter zurück, das Parlament war handlungsunfähig. Heute kann dies nicht mehr eintreten: Sollten alle drei Nationalratspräsidenten ihre Funktionen zurücklegen, wäre automatisch der längstdienende Abgeordnete Präsident - derzeit ÖVP-Mandatar Jakob Auer.

Spannend wird am Sonntag die Frage nach der Zahl der Klubs - davon hängt ab, wie viele zusätzliche Gebäude angemietet werden. Zwar bekommt jeder Klub je nach Größe ein paar Räume im Haupthaus, derzeit gehören aber noch das Palais Epstein, drei Häuser in der Reichsratsstraße sowie Räume in Doblhoff- und Bartensteingasse zum Parlament. Alle Mandatare schaffen es also nicht ins Parlament, selbst wenn sie formal schon drinnen sind.

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