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Die bürgerliche Tragödie

Von Walter Hämmerle

Politik

Die Städte zu erobern: Das versuchen seit Jahrzehnten vergeblich zahllose Reformer in der ÖVP.


Wien. Das Schlimmste, im Leben wie in der Politik, ist: Man sieht ein Unglück kommen und kann es nicht abwenden. In der Literaturwissenschaft hat sich dafür der Begriff der griechischen Tragödie entwickelt, man kann ihn auch auf die Politik anwenden.

Die ÖVP, zum Beispiel, weiß seit gut zwanzig Jahren, dass sie Gefahr läuft, die Jungen, die Offenen, die Liberalen zu verlieren; in Wien, in Graz, in Linz, Salzburg und im Rheintal, besonders aber eben in Wien. Als Wolfgang Schüssel 1995 zum Parteiobmann gewählt wurde, kündigte er an, die Städte für die Volkspartei zu erobern. Sein Nach-Nach-Nachfolger Michael Spindelegger steht, wie die jüngsten Wahlen gezeigt haben, noch immer vor dem gleichen Problem, nur ist es längst existenziell geworden.

Versuche, politische Strategien gegen die urbane Marginalisierung zu finden, gab es wohl. Der Erste war Erhard Busek mit seinen bunten Vögeln Ende der 70er Jahre in Wien. Mitte der 90er Jahre formierte sich eine Gruppe rund um die ÖVP-nahe Julius-Raab-Stiftung in Wien-Meidling mit ihrem Geschäftsführer Walter Marschitz. Weitere Proponenten waren: Elisabeth Anselm, Andreas Kratschmar, Boris Marte und Bernhard Schragl sowie Feri Thierry und, am Rande, Neos-Gründer Matthias Strolz. Thierry wird künftig ab 2014 Bundesgeschäftsführer der neuen Partei.

Politisch sozialisiert wurden die meisten in der Hochschülerschaft. Hier machten sie die prägende Erfahrung, dass auch eine bürgerliche Bewegung, in diesem Fall die ÖVP-nahe Aktionsgemeinschaft, auf schwierigem Terrain, den Universitäten, mehrheitsfähig sein kann, wenn nur die richtigen Themen gesetzt werden.

Was an den Universitäten möglich ist, müsste doch eigentlich auch in den Städten funktionieren: Das war die Gründungsidee für die 1995 ins Leben gerufene "Plattform für eine offene Politik", mit der Marschitz & Co die ÖVP von innen zu öffnen, den liberalen Flügel zu erneuern suchte.

Die Logik der Medien machte das Unterfangen nicht einfacher: Immer, wenn die "Plattform" offen Kritik an den Parteioberen übte, schaffte sie den Sprung in die Schlagzeilen; wenn es um Inhalte ging, war das Interesse schnell vorbei. Man kennt das von Berufskritikern in der Politik. Für die Akteure, die allesamt in der Partei oder ihrem Umfeld arbeiteten, eine schwierige Gratwanderung.

Im Jahr 2000 startete die "Plattform" den Versuch, die Führung der Wiener ÖVP zu übernehmen; die Kampfkandidatur gegen deren Chef Bernhard Görg scheiterte jedoch - die Niederlage war der Anfang vom Ende für die "Plattform". Der enge Kreis der Proponenten begann sich beruflich neu zu orientieren.

Es dauerte allerdings nicht allzu lange, bis eine neue Generation an innerparteilichen Erneuerern ihr Glück versuchte. Als sich 2002 nach dem Erdrutschsieg Schüssels über Nacht plötzlich die Chance einer neuen Koalition mit den Grünen auftat, erblickte "Schwarzgruen.org" das Licht der Öffentlichkeit. Dahinter standen unter anderen Michael Schuster und Beate Meinl-Reisinger. Die Aussicht auf eine schwarz-grüne Koalition euphorisierte viele junge Liberale in der Volkspartei. Als am Schluss erneut Schwarz-Blau herauskam, war wieder eine Chance zur Erneuerung für die ÖVP ungenutzt vorbeigegangen. Sowohl Meinl-Reisinger wie auch Schuster sind heute bei den Neos aktiv.

Von den Medien weniger beachtet werkte eine christlich-soziale Reformergruppe rund um Thomas Köhler und Christian Mertens im Hintergrund, die versuchte, das Soziale in der ÖVP neu zu denken. Sie teilten das Schicksal aller anderen, indem sie von der Parteiführung links liegen gelassen wurden.

Nach den Wahlen 2006 fand sich die ÖVP wieder am Boden: das Kanzleramt perdu, der liberale Flügel lahm wie eh und je. Nach dem Schock des Machtverlusts ergriff die Parteispitze selbst die Initiative zur Erneuerung: Parteichef Wilhelm Molterer beauftragte die damalige schwarze Zukunftshoffnung Josef Pröll mit einem programmatischen "Perspektivenprozess". Der organisatorische wie personelle Aufwand war enorm; die konkreten Ergebnisse hielten sich in Grenzen; immerhin die Eingetragene Partnerschaften für Homosexuelle wurde umgesetzt.

Von den Ergebnissen des "Perspektivenprozesses" ist längst keine Rede mehr. Dafür könnte man den Eindruck gewinnen, die Geschichte wiederholt sich. Wieder werden in der Raab-Stiftung Konzepte für eine liberale ÖVP gewälzt - und wieder rennen die Akteure in der Partei gegen verschlossene Türen. Heute heißt der Präsident der Stiftung Harald Mahrer, er kommt, wie einst Marschitz & Co, aus der Hochschülerschaft. Und als es um die Listen für die Wahlen ging, lehnte die Partei dankend ab. Mandate für Bauern, Beamte, Bürgermeister waren wichtiger. Der ÖVP droht die nächste Generation abhanden zu kommen, die ein personelles Angebot an den urbanen Raum darstellen könnte.

Jetzt allerdings müsse etwas geschehen, zeigt sich ein Veteran von damals überzeugt. Die Partei habe gar keine andere Wahl mehr. Das allerdings hat man schon öfters geglaubt. Unter anderem deshalb sind die Neos im Parlament.