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Auf der Jagd nach dem Truthahn

Von Moritz Gottsauner-Wolf

Politik
Amerikanisches Lebensgefühl pur: Kein anderes Fest ist so verankert in der US-Gesellschaft wie Thanksgiving, das Fest der Familie, des Truthahns, Kürbiskuchens und des American Footballs.
© Corbis

Auch Österreicher finden Gefallen an dem amerikanischen Gelage.


Wien. Wer einen Truthahn braucht, ist am Naschmarkt gut aufgehoben. Hier kriegt man alles, ob groß oder klein, von der Bio-Pute bis zum Halal-Vogel. Ein Fleischhauer auf dem Markt hat das Foto eines Truthahns in voller Balzpracht auf seine Eingangstür geklebt. Die Nachfrage war im vergangenen Monat besonders groß.

Der Grund: Thanksgiving steht vor der Tür, das traditionelle amerikanische Erntedankfest am vierten Donnerstag im November. In den USA sitzen dann Millionen Amerikaner mit ihren Familien um reich gedeckte Tische, verspeisen Truthahn und Süßkartoffelpüree, um anschließend gemästet auf der Couch American Football im Fernsehen zu schauen. Kein anderer Feiertag repräsentiert das amerikanische Lebensgefühl besser als dieser. Auch hierzulande braten heute, Donnerstag, die Truthähne im Rohr. Rund 10.000 Amerikaner leben in Österreich, 8000 davon in Wien. Sie halten ihre Tradition im Ausland aufrecht - auch wenn es nicht immer einfach ist, die richtigen Zutaten für Pumpkin Pie, Cranberrie-Sauce und Co zu finden.

Jedes Thanksgiving-Fest beginnt und endet mit dem Truthahn. 20 Vorbestellungen hat ein Geflügelhändler am Naschmarkt in seinen Büchern stehen. Die meisten der Truthähne wiegen zwischen sechs und elf Kilogramm. Aber auch ein 17-Kilo-Monster ist dabei, eine Größe, die dem durchschnittlichen Backrohr bereits Probleme bereitet.

Truthähne in Österreich schmecken besser

In den USA werden jedes Jahr 245 Millionen Tiere gezüchtet. Wie viele davon zu Thanksgiving verspeist werden, weiß niemand genau. Die Schätzungen reichen von 20 bis 40 Millionen. Wer in Österreich einen passenden Vogel sucht, sollte jedenfalls rechtzeitig vorbestellen. "Es sind schon hauptsächlich Amerikaner, die für Thanksgiving bestellen", sagt der Händler. "Auch ein paar Österreicher sind dabei. Die sind aber meistens mit Amerikanern verheiratet oder verwandt."

Zufällig steht auch eine New Yorkerin im Geschäft, die seit einem Jahr in Österreich lebt. Sie wird heuer keinen Truthahn zubereiten, "aber ich höre von meinen amerikanischen Freunden, dass die Truthähne in Österreich besser schmecken, auch wenn sie viel teurer sind".

Doch der Truthahn ist nicht alles. Zu einem klassischen Thanksgiving Dinner gehört die Truthahn-Füllung, eine Paste auf Brotbasis mit Sellerie, Karotten und Zwiebeln; Kartoffelpüree, Süßkartoffelpüree und eine Sauce aus Moosbeeren, zu Englisch: Cranberries. Dazu kommen unzählige Variationen und Gerichte, die sich von Region und Familie unterscheiden.

Kürbis-Mix aus dem Supermarkt gesucht

"Ich habe schon alles beisammen, das meiste bekommt man ja auf dem Naschmarkt", sagt Melissa Domenig, eine Yoga-Trainerin aus New York, die seit fünf Jahren mit ihrem österreichischen Mann und ihrer Familie in Wien lebt. "Für manche Dinge muss man aber die richtigen Geschäfte kennen und auf die Jagd gehen."

Für passierte Kürbisse, zum Beispiel, das ist die essenzielle Zutat für ein weiteres Thanksgiving-Gericht: Pumpkin Pie, Kürbistorte. Damit es schmeckt wie zu Hause, muss der Kürbis-Mix aus der Dose vom internationalen Supermarkt her.

In den vergangenen Jahren sind im Hause Domenig auch viele österreichische Freunde auf den Thanksgiving-Geschmack gekommen: "Amerikaner haben ja eine etwas schlechte Nachrede, was das Kochen betrifft", sagt sie. "Aber die Österreicher waren immer begeistert. Es erinnert sie ein bisschen an das Martinigansl und ich glaube auch, die Traditionen haben etwas gemeinsam."

Das Essen am Nachmittag oder frühen Abend spielt bei Thanksgiving zwar eine tragende Rolle. Aber die Bedeutung von Thanksgiving geht weit über das bloße Gelage hinaus. Anders als zu Weihnachten, das für gewöhnlich in der Kernfamilie gefeiert wird, kommen zu Thanksgiving meist auch Freunde und die gesamte Verwandtschaft zusammen. Der familiäre Charakter ist auch der Grund, warum alljährlich rund
45 Millionen Amerikaner für Thanksgiving-Feiern Wegstrecken von 80 Kilometern oder mehr zurücklegen. Um diese Zeit ist kurzfristig kaum mehr ein Flug- oder Bahnticket zu bekommen.

Einmal angekommen, verbringen viele der Heimkehrer den frühen Nachmittag vor dem Fernseher. American Football gehört zu Thanksgiving wie Truthahn und Kürbistorte. Alljährlich wird in den Feiertagen eine Serie von Spielen abgehalten, eine Tradition, die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Bis zu 30 Millionen Zuseher verfolgen die Spiele zu Thanksgiving auf der Couch.

Einst das religiöse Erntedankfest

Seinen Ursprung hat das Fest, lange bevor die Amerikaner mit eierförmigen Bällen durch die Gegend rannten. Im England der Reformation im 16. Jahrhundert wurden religiöse Thanksgiving-Tage als Gegenstück zu den katholischen Feiertagen abgehalten. Der Erntedank-Aspekt war damals noch nicht so ausgeprägt wie heute. Dieser entwickelte sich erst in der Neuen Welt durch die Ankunft der Pilgerväter, einer religiösen Splittergruppe, die sich in Amerika ein freieres Leben erhofften. Nach einem harten Winter mit vielen Toten feierten die Einwanderer 1621 ihre erste gute Ernte, gemeinsam mit den Ureinwohnern vom Stamm der Wampanoag, die den Neuankömmlingen unter die Arme griffen.

Thanksgiving gilt heute in weiten Kreisen als säkulares Fest, das nicht nur Christen, sondern auch Juden und Muslime feiern. Das verdeutlicht heuer auch ein äußerst seltener Kalender-Zufall: Thanksgiving und das jüdische Lichterfest Chanukka fallen auf denselben Tag, zum ersten Mal seit 125 Jahren. Amerikanisch-Jüdische Thanksgiving-Rezepte liegen deshalb seit Wochen im Trend. In den Medien war schnell ein eigenes Wort dafür zur Hand: "Thanksgivukkah".