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"Wir dürfen uns mit der Armut nicht abfinden"

Von Wolfgang Zaunbauer

Politik

Michael Landau sieht Budgets 2014 und 2015 als Elchtest, ob die Regierung es ernst meint.


"Wiener Zeitung": Kardinal Christoph Schönborn bezeichnet Sie als "zäh, hochintelligent und sehr menschlich" - wie würden Sie sich selbst charakterisieren?Michael Landau: Ich glaube, dass ich beharrlich bin, ungeduldig sein kann - mich aber auch freuen kann.

Beharrlichkeit und Ungeduld - genau das, was man in Ihrer Position braucht?

Das ist manchmal notwendig. Dort, wo Menschen durch Menschen Unrecht geschieht, mit Beharrlichkeit darauf hinzuweisen und dort, wo etwas änderbar ist, Änderung einzufordern. Das gehört zu den Caritas-Aufgaben.

Sie sind promovierter Biochemiker. Wie findet man gerade als Naturwissenschafter den Weg zum Glauben - und zwar so sehr, dass man beschließt, Priester zu werden?

Die Frage, ob ich Priester werden soll, wurde mir im Laufe meines Studiums deutlicher. Anfangs dachte ich: blöde Idee. Irgendwann fragt man sich dann: Warum eigentlich nicht? Im Zuge des darüber Nachdenkens habe ich begonnen, Theologie zu studieren - zunächst mit der Voreingenommenheit eines Naturwissenschafters, dass das Theologiestudium eigentlich kein richtiges Studium ist. Wider Erwarten war es interessant und spannend. So bin ich nach Abschluss meines Doktorates in Biochemie ins Wiener Priesterseminar eingetreten.

War es für Sie von Anfang an klar, dass es der Weg der Caritas werden würde?

Nein, das war unerwartet. Eine spannende Überraschung. Heute bin ich darüber froh und dankbar.

Im November haben Sie das Amt von Franz Küberl übernommen. Worin unterscheiden Sie sich von ihm - und worin wollen Sie sich nicht unterscheiden?

Ich glaube, dass uns der Kernauftrag verbindet: die konkrete Hilfe für konkrete Menschen, die Aufmerksamkeit an den Rändern der Gesellschaft und an den Rändern des Lebens. Caritas heißt ja: Not sehen und handeln. In einem zusammenwachsenden Europa, in einer kleiner werdenden Welt stellen sich da auch manche Fragen in einer neuen Dringlichkeit.

Welche zum Beispiel?

Die Frage der Entwicklungszusammenarbeit braucht in Österreich mehr Aufmerksamkeit. Ich bin froh, dass das neue Regierungsprogramm hier das Ziel der 0,7 Prozent des BIP bekräftigt und dass es einen entsprechend dotierten Auslandskatastrophenfonds geben soll. Entscheidend wird aber sein, ob die Dinge das Papier wert sind, auf dem sie stehen.

Das Regierungsprogramm lohnt einen zweiten Blick und ist besser als sein Ruf. Aber aus unserer Sicht ist der Finanzierungsvorbehalt, der über allem schwebt, ein problematischer Punkt. Die Budgets 2014 und 2015 werden der Elchtest dafür sein, ob es der Regierung mit ihren Zielen ernst ist. Wollen wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit aus Gründen der internationalen Solidarität Akzente setzen oder wird Österreich bei der Entwicklungszusammenarbeit mit wenigen anderen Ländern weiter um die rote Laterne in der EU rittern?

Mit Sebastian Kurz ist ein sehr junger Minister dafür zuständig. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?

Zunächst interessiert uns nicht das Alter eines Regierungsmitglieds, sondern was er tut und wofür er einsteht. Älter wird er von alleine. Aus meiner Sicht hat er als Integrationsstaatssekretär gute Arbeit geleistet, aber zählen wird die Praxis. Aber mit den bisherigen Erfahrungen bin ich positiv voreingenommen.

Der neue Papst predigt die Armut der Kirche und eine Kirche der Armen. Erleichtert das die Arbeit der Caritas?

Wer sich das letzte päpstliche Rundschreiben "Evangelium Gaudii" durchliest, erkennt hier eine neue und sehr mutige Handschrift. Ein Bild einer Kirche, das ganz tief im Evangelium verwurzelt ist. Die Kirche gehört an die Seite der Armen. Hier deckt sich das Wort auch mit dem praktischen Tun, wenn etwa Papst Franziskus nach Lampedusa reist und daran erinnert, dass es eine Schande für Europa ist, wenn hier Jahr für Jahr Menschen vor den Toren Europas ertrinken. Er äußert sich auch erstaunlich kritisch zu einer Wirtschaft, die den Menschen aus dem Blick verloren hat.

Und wie wirkt sich das aus?

Ich sehe, dass sich die öffentliche Diskussion hier um ein Stück in einer guten Weise verschoben hat. Es wurde deutlicher, dass Glaube und Leben zusammengehören. Die Achtsamkeit, die wir einander erweisen, die Behutsamkeit, wie wir miteinander umgehen - das sind die Dinge, die am Ende zählen. Nicht das Bankkonto oder die gesellschaftlichen Titel.

Österreich ist laut neuesten Zahlen das zweitreichste Land der EU. Man könnte glauben, als Armutsbekämpfer hält sich die Arbeit da in Grenzen. Wohl ein Trugschluss.

Ich freue mich, dass Österreich gut da steht. Aber genau deshalb dürfen wir uns nicht damit abfinden, dass es in unserem Land mehr als eine Million Menschen gibt, die armutsgefährdet sind, und 300.000 in Wohnungen leben, die sie nicht angemessen warmhalten können. Eben weil es uns gut geht, haben wir Verantwortung für die, denen es nicht so gut geht. Wir können Armut und Ausgrenzung wirksam begrenzen, wenn wir wirklich wollen.

An welchen Schrauben muss gedreht werden? Müsste da etwa die Gemeinde Wien als Eigentümerin der Wien Energie tätig werden?Es ist ein österreichweites Thema, keine Wiener Frage. Zunehmend mehr Menschen stoßen mit den Kosten für Wohnen, Heizen und Energie an und über ihre Grenzen. Da kann man schon etwas tun. Die Bundesregierung ist uns vor der Wahl ein neues Mietrecht schuldig geblieben. Das wäre ein Instrument, um das völlig intransparente System der Zu- und Abschläge zu den Mieten zu ändern. Es braucht auch eigenmittelfreie Wohnungen. Auch den Energieversorgern kommt ein Stück Verantwortung zu, wie sie mit Menschen umgehen, für die die Energiekosten zu einer Belastung werden. Ich bin ganz froh, dass bei Wien Energie mit der Ombudsstelle ein sinnvolles Instrument geschaffen wurde. Gerade energiearme Haushalte leben oft in Wohnungen, die nicht ordentlich isoliert sind, heizen mit Geräten, die einen enormen Energieverbrauch haben, zum Teil mit Strom. Wenn wir das ändern, indem wir die Menschen dabei unterstützen, ihre Wohnungen zu isolieren und Geräte zu tauschen, dann mag das im ersten Moment etwas kosten, aber langfristig entlasten wir nicht nur die Haushalte, sondern tun auch der Umwelt etwas Gutes. Diese weitere Perspektive, Nachhaltigkeit im Denken, dieser Horizont - diese Diskussion gilt es stärker zu führen. Von da her hätte ich mir vom Regierungsprogramm mehr an Weite und Vision gewünscht.

Neben dem Mietrecht fordern sie zur Armutsbekämpfung auch eine Bildungsreform.

Das Thema Bildung mag auf den ersten Blick nicht wie ein Caritas-Thema aussehen, aber wir wissen aus unserer täglichen Arbeit, es gibt einen ganz engen Zusammenhang zwischen Bildung und Armutsbekämpfung. Bildung und parallel auch Armut wird oft vererbt. Wenn wir Familien einen Ausstieg aus der Armutsspirale ermöglichen wollen, ist der Zugang zur Bildung ein wichtiger Punkt. Da geht es vor allem um den Elementarbereich.

Warum stehen nicht höhere Gehälter oder Mindestlohn auf Ihrer Agenda? Es gibt Working Poor, die mit einem Vollzeitjob nicht über die Runden kommen.

Gerade bei Working Poor ist die Frage des Eingangssteuersatzes ein Thema. Es gibt zur Armutsvermeidung und -bekämpfung aber nicht die eine und einfache Lösung. So muss etwa auch die bedarfsorientierte Mindestsicherung evaluiert und weiterentwickelt werden. Es geht um Zugang zu Arbeit, Arbeitslosenprojekte, Jugendarbeitslosigkeit, das Thema der Mieten - wenn Armut vermieden und wirksam bekämpft werden soll, braucht es ein Bündel an Maßnahmen. Da hoffe ich auf ambitionierte Ziele. Kinderarmut ist in Österreich Realität - da darf niemand einfach zur Tagesordnung übergehen.

Österreich geht es gut, doch die Zahl der Armutsgefährdeten steigt. Versagt da der Sozialstaat?

Wer sich die Wirtschaftskrise anschaut und die aktuellen Zahlen, weiß: Ohne einen funktionierenden Sozialstaat ginge es einer noch bedeutend größeren Zahl an Menschen in unserem Land schlecht. Der Sozialstaat hat sich in der Krise bewährt. Die deutschen Bischöfe sagen: Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherheit in einem Land sind zwei Pfeiler einer Brücke - und eine Brücke braucht beide Pfeiler.

Für erfolgreiche Armutspolitik werden Sie die Politik brauchen. Jetzt hat man den Eindruck, die Caritas ist vor allem mit der ÖVP im Dauerclinch. Sind das katholische Flügelkämpfe oder hat die ÖVP aus Ihrer Sicht den christlichen oder christlichsozialen Weg verlassen?

Unsere Aufgabe ist unter jeder Bundesregierung die gleiche und wir haben jeder politischen Partei gegenüber den gleichen Zugang, der vom Evangelium und der Not der Menschen bestimmt wird. Da erinnern wir die Regierungsparteien wie auch die Opposition daran, dass Armut ein Stück Realität ist, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen, und - auch wenn sie es nicht gerne hören - dass wir das ändern können, wenn wir es ändern wollen. Ich weiß, dass in einem wohlhabenden Land der Applaus endenwollend ist, wenn man an die Situation von Obdachlosen erinnert, an die Situation von Menschen auf der Flucht, an die Situation von Menschen in der Not. Aber wir arbeiten jeden Tag mit den Menschen und bei dem, was wir sehen, zu schweigen, wäre Unrecht.

Das würde jeder Politiker wahrscheinlich genauso unterschreiben. Aber wenn es um die Politik geht, kommen Caritas und die Parteien oft nicht zusammen.

Genau. Wir erinnern dann daran, dass die Dinge auch konkret werden müssen und sie bei allem parteiübergreifenden Bekenntnis in den Sonntagsreden von Montag bis Samstag umgesetzt gehören.

Ein großes Thema in diesem Jahr waren die Refugees in der Votivkirche. Da wurde die Caritas letztlich von allen Seiten geprügelt.

Unser Auftrag besteht nicht darin, uns beliebt zu machen, sondern uns den Aufgaben zu stellen, die anstehen. Wir wurden zu den Flüchtlingen in die Votivkirche in eine sehr eskalierte Situation gerufen. Das mag unbequem sein und wir hatten auch nicht mit allen Anliegen eine Freude. Aber Menschen in einer Notsituation lässt man nicht im Stich. Nüchtern gilt es hier zwei Dinge hinzuzufügen: Zum einen war es das erste Mal in Österreich, dass Menschen auf der Flucht selbst auf ihre Anliegen hingewiesen haben. Das war für viele irritierend, auch für uns. Zum anderen weisen die Flüchtlinge auf real existierende Missstände hin. Das gilt es ernst zu nehmen. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass Menschen auf der Flucht zum Teil zum jahrelangen Nichtstun gezwungen sind, weil die Verfahren lange dauern und in dieser Zeit keine Möglichkeit besteht, für sich selbst zu sorgen oder einen Beitrag dazu zu leisten. Die Menschen werden jahrelang im Wartesaal des Lebens festgehalten.

Aber ist das nicht auch die Schuld mancher gutmeinender Menschen, die die Verfahren in die Länge ziehen?

Deswegen hat das Innenministerium unlängst im Bereich des Neuerungsverbots Änderungen vorgenommen, weil Dinge irgendwann auch entschieden sein müssen. Und wir haben da nicht widersprochen. Umgekehrt gehört zum Rechtsstaat auch, eine Entscheidung rechtsstaatlich überprüfen zu lassen. Entscheidungen im Asylverfahren sind oft genug Entscheidungen über Leben und Tod - da muss man sich die notwendige juristische Qualität zugestehen.

Das zweite Thema, das wirklich auch ansteht, sind Mindeststandards in der Grundversorgung. Auch in Österreich gibt es Quartiere, wo Menschen in schimmeligen Räumen und unter unzumutbaren Bedingungen untergebracht werden. Ich bin sehr froh, dass die Landesflüchtlingsreferenten bei ihrer letzten Tagung diese Themen aufgegriffen haben - und zwar mit nüchterner Sachlichkeit. Das ist ein großer Fortschritt.

Was haben Sie für Wünsche zu Weihnachten?

Gerade zu Weihnachten spüren Menschen ihre Einsamkeit und ihre Not oft doppelt. Ich würde mir wünschen, dass gerade in dieser Zeit - aber im Grunde 365 Tage im Jahr - die Menschen ihre Augen öffnen und schauen, was kann ich selber tun, wo bin ich selber gefordert, einen Beitrag zu leisten, dass es in unserem Land ein Stück freundlicher, ein Stück fairer, ein Stück menschengerechter zugeht. Da kann jeder einen Beitrag leisten. Es geht darum, unser Zusammenleben so auszugestalten, dass jeder einen Geschmack von Zukunft hat und eine gute Perspektive für das eigene Leben findet.
Zur Person

Michael Landau wurde 1960 als Sohn eines Juden und einer Katholikin in Wien geboren. Nach der Matura studierte er in Wien Biochemie und promovierte 1988. Während des Studiums ließ er sich taufen, trat schließlich ins Priesterseminar ein und studierte in der Folge Theologie und Philosophie. 1992 wurde er zum Priester geweiht, seit 1995 ist er Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien.

Am 13. November 2013 wurde er zum Nachfolger von Franz Küberl als Präsident der Caritas Österreich gewählt.